Die ersten Tage des Jahres haben für mich immer etwas gedämpftes. So als läge eine Glocke über dem Geschehen. Das neue Jahr hat begonnen, der Glanz der Weihnachtszeit ist erloschen und mir erscheint der Alltag in diesen ersten Tagen manchmal grau. Fast, als würde dem Jahr noch die Richtung fehlen, der Schwung und die Bewegung. Dabei hat die Zeit der Dunkelheit bereits im November begonnen. Die Zeit des Rückzugs, der Innenschau. Die Zeit, in der die Samen tief im Inneren ganz unbemerkt wachsen. Die Zeit, in der wir vielleicht manchmal mit der Vergangenheit mehr verbunden sind als mit der Zukunft. Es ist auch die Zeit der Stille und der Einkehr. Nun ist der Höhepunkt schon überschritten. Es wird langsam wieder heller. Doch während ich Weihnachten als fröhlich und laut empfinde, kehrt für mich nun erst die wirklich stille Zeit ein. Häufig waren dies Momente, in denen ich für einige Tage und Nächte auf „meine Insel“ fuhr. Alleine. Ohne Handy. In ein Kloster, das der Stille Raum und Rahmen gibt. Zu Beginn des Jahres gaben mir diese Tage immer sehr viel Kraft. Alles sortierte sich in mir neu. Fast ohne mein Zutun. Allein durch die Ruhe. Dort, auf der Insel, lernte ich ganz langsam die Schönheit von Stille kennen. Erst in der Gruppe, später alleine. Ganz sanft war diese Begegnung. Obwohl ich anfangs noch dachte, die Stille sei nichts für mich, legte sie sich sachte um mich und ließ mich entdecken, wie wohl dieser Mantel tut. Wie spannend war es dann, immer tiefer in die Stille einzutauchen, um zu erkennen, welche Kraft darin liegt.
Meditieren kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „besinnen auf“, manchmal wird es auch übersetzt als „in die Mitte gehen“. In die Mitte gehen, um daraus frei zu entscheiden, zu leben und zu handeln. Im altindischen Sanskrit findet sich die Wurzel „mehda“, womit die Weisheit gemeint ist und das, was heilt. Das Wort Medizin stammt von der gleichen Wortwurzel ab. Adelheid Ohlig, Begründerin des Luna Yoga schreibt: „Meditierend wende ich mich meiner Mitte zu, betrachte und beobachte meinen Atem, mein Sein. Spüre den Hauch der Luft, lausche den Tönen der Welt, schaue nach innen. Meditieren ist Medizin der Seele.“
Schon lange wollte ich über Stille schreiben. Und immer fehlten mir die Worte. Wie die Stille in Worten fassen, wo Stille doch gerade von Wortlosigkeit im Inneren und Äußeren lebt. Stille fasziniert mich. Stille in aller Vielfalt. Stille um mich herum, Stille in mir. Stille im Innen und im Außen. Ein Loslassen und Entspannen des Kopfes, um aus der entstandenen Leere neu schöpfen zu können. Das Leben in all seiner Fülle leben und dann in der Stille nachspüren, still sein, Raum schaffen für neue Fülle. Sowie unser Körper das Zusammenspiel von Anspannung und Entspannung braucht, so braucht auch unser Geist Fülle und Leere.
Seit inzwischen drei Jahren gehe ich fast täglich in die Stille, meditiere häufig am Morgen für zwanzig Minuten. Zwei Jahre lang ununterbrochen jeden Morgen, seit einem halben Jahr ist mein Umgang damit freier geworden. Die Körpermeditation – Yoga – bereichert inzwischen meinen Übungsalltag. Aus all den vielen Meditationsformen habe ich mir die simpelste gewählt: Ich versuche, bei meinem Atem, bei mir zu bleiben. Nehme Gedanken wahr, lasse sie kommen und versuche, sie wieder ziehen zu lassen. Manchmal gelingt das, manchmal nicht. Einmal hörte ich einen Meditationsmeister sagen, dass wir in der westlichen Welt ganz selbstverständlich täglich mehrere Minuten für die Körperhygiene aufbringen. Er wies darauf hin, dass es genauso wichtig sei, täglich einige Minuten für die seelische Hygiene aufzuwenden und meinte damit, in die Stille zu gehen. Zu meditieren. Stille ist heilsam. In der Stille geht es um nichts. Ganz einfach. Es geht um das Sein und das Wahrnehmen. Das Beobachten und Annehmen. Religio. Das bedeutet Rückbindung. In diesem Zustand der Rückbindung mit einer inneren Wirklichkeit erlebe ich meist tiefe Ruhe, manchmal auch Erfahrungen, die voller Bilder, Symbolik und Bedeutung sind. Das sind allerdings Ausnahmen und nicht das Ziel. Die tägliche Stille ist ein Innehalten. Das Anhalten des Lebensrades, das sich beständig weiterdreht. Danach ist der Blick auf das Leben frisch und klar, bereit zu handeln. Die Stille lehrte mich, dass wir weder unsere Gefühle noch unsere Gedanken sind. Wir können und dürfen sie wahrnehmen, doch wir als Person sind etwas anderes. Wir sind mehr. Viel beständiger und größer als der Fluss unserer Emotionen oder Gedanken. Diese Erkenntnis bringt vor allem auch in Konfliktsituationen eine andere Haltung mit sich. Ich habe gelernt, mich und den anderen zu beobachten, wahrzunehmen, bevor ich reagiere. Meistens zumindest.
Lange habe ich darüber sinniert, wie ich über Stille schreiben könnte - ohne dabei moralisch oder missionierend zu sein. Geht es mir doch vielmehr darum, die Schönheit von Stille in Worte zu fassen. Ein wunderbares Konzert des Pianisten Chilly Gonzales ließ mich begreifen, wie spannend Stille wirklich ist. Der begnadete Entertainer erfüllte uns Zuschauer einen Abend lang mit berührender Musik und feinsinnigem Humor über sich selbst, die Musik und das Leben. Der absolute Höhepunkt war jedoch – trotz aller Fülle – die vermeintliche Leere: Die Interpretation von John Cages „4‘33“. John Cage – einer der einflussreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts – ging davon aus, dass alle Geräusche Musik sind. Es herrschte somit in seiner Musik die Gleichwertigkeit aller Geräusche, Klänge und Laute. In seinem Stück „4‘33“ tritt ein Pianist auf, öffnet den Deckel der Tastatur und sitzt still davor. Während vier Minuten und 33 Sekunden hört das Publikum die Geräusche, die im Raum vorhanden sind. Für John Cage ebenfalls Musik: „Everything we do is music.“ Dann schließt der Pianist den Deckel wieder, verbeugt sich zum Applaus und geht von der Bühne. Chilly Gonzales führte das Stück an jenem Abend grandios ein: Wir hätten nun stundenlang sehr viel Musik gehört, hätten gelacht und wären gerührt gewesen. Somit hätten wir nun sehr viele Informationen zu verarbeiten. Und es sei wichtig, diese Informationen zu verdauen, sie wirken und im Inneren ankommen zu lassen. Dann erzählte er auf seine unterhaltsame Art von John Cages „4‘33“ und teilte mit, dass er dieses Werk nun für uns spielen würde. Seine Interpretation davon. Er nahm sein Handy heraus, stoppte vier Minuten und 33 Sekunden, beugte sich über die geöffnete Tastatur - fast in einer Art Betposition - und schwieg regungslos.
Was für eine unglaubliche Erfahrung. Er machte wirklich ernst, ließ uns tatsächlich erleben, was Stille sein kann und wie Menschen in einer großen Gruppe damit umgehen. Schnell stellte sich nämlich heraus, dass es den Menschen extrem schwer fiel, still zu sein. So ging durch den ganzen großen Saal auf einmal eine Reihe an Tiergeräuschen, von Miauen, Wiehern, Grunzen über Furzgeräusche, Klatschen, Jauchzen, Schreien. Möglicherweise war es ja auch inszeniert oder animiert. Dennoch wirkte es so, als wären die Menschen wild geworden und hätten sich von ihren inneren Zwängen befreit. Vielleicht wie Kinder, die zu lange still sein mussten und aus denen dann alles herausplatzt. Bis irgendwann jemand „shhhh“ rief und sich immer mehr Menschen diesem Geräusch anschlossen. Irgendwann war der ganze große Raum wieder vollkommen still. Welch ein erhebender Moment! Nur einen Augenblick - dann waren vier Minuten und 33 Sekunden um. Der stille Pianist erhob sich, klappte den Flügel zu und bekam tosenden Applaus. Welch ein Erlebnis! Dieser Moment lebte vom Mut zur Stille. Und es war genau diese Stille, die alles vorherige umso stärker erscheinen ließ. Danach fehlten die Worte. Ich wollte nachhause gehen. Still sein. Um dann zu schreiben.
Kommentar schreiben
ich (Sonntag, 12 Januar 2020 00:15)
Wie soll ich Worte finden,
Klar wie das heilige Wasser,
Rein, wie das Mädchen,
Jenseits - aller Zeiten?
Dichten, ohne Parallelen,
tangenial, berührungslos.
Nicht von diesr Welt?
Schweigen, beten ohne Gott,
Teilen den Mantel,
ohne Negativzins?
Glauben - ohne Sinn,
Dulden, ohne Gnade?
Frau,
Antarktis,
Eis,
Sünde,
Lust
Weg,
ohne Ziel.
Nichts,
alles.
Worte..., Pol, Eis,
Ziel, Ende, Sehnsucht,
Tod
Liebe
alles
Sein