Der Traum von der Kulturbrücke. Kolumbien Teil 4
Schon seit einigen Jahren habe ich einen Traum: Ich möchte eine Brücke der Kultur zwischen Deutschland und Kolumbien bauen. El Puente Colombo-Alemán de Cultura. Eine Brücke, auf der wir uns innerhalb von Kunst und Kultur begegnen. Denn ich glaube, dass Kunst und Kultur die Seele unserer Gesellschaft sind. Ein Bild schwebt mir vor: Wir betreten von beiden Seiten die Brücke, um gemeinsam etwas Neues zu erschaffen, um im Raum der Kunst miteinander zu kommunizieren. Auf Augenhöhe. Doch leider ist diese Kommunikation auf Augenhöhe nicht so selbstverständlich wie ich dachte. Die kolonialen Macht- und Herrschaftsstrukturen sind tief verankert. Wie eine Art innere Kolonisierung. Wollte ich dies lange Zeit nicht wahrhaben, so traf mich diese Erkenntnis vor ungefähr drei Jahren – nach der ersten Ausgabe unseres Festivals FAMILIARTE in Bucaramanga – wie ein Schock. Jahrelang hatte ich mich diesbezüglich in einer Illusion, einer Täuschung bewegt und die Ent-Täuschung traf mich mit voller Wucht. Heute trifft mich diese „gottgegebene“ Welt- und Herrschaftsordnung in Kolumbien zwar immer noch, aber ich sehe das inzwischen vor allem als Aufgabe und Herausforderung. Und dieser Herausforderung zu begegnen ist für mich nirgendwo besser möglich als im Raum von Kunst und Kultur.
Vor einigen Jahren beschloss ich mit meinen kolumbianischen Freunden, den Traum von der Kulturbrücke zu verwirklichen und kulturelle Projekte in Kolumbien umzusetzen. Wir gründeten FAMILIARTE – ein Kultur-Festival für Familien – für Menschen von jung bis alt. In Bucaramanga – einer mittelgroßen Stadt mit ungefähr 500.000 Einwohnern zwischen Bogotá im Süden und Cartagena im Norden. Bucaramanga ist eine Stadt, die sich vollkommen dem sogenannten „Fortschritt“ verschrieben hat, das heißt einem extremen Bauwahn von Straßen und Wohntürmen, Malls und neuen Stadtteilen. Die Stadt „blüht“. Kultur spielte hier jedoch bisher kaum eine Rolle. Zumindest nicht im künstlerischen Sinne, wenn, dann eher zur Unterhaltung. Es gibt einige kleine Tanz- und Musikschulen, Folklore-Veranstaltungen und so manchen Idealisten. Die Künstler der Stadt sind alle in jungen Jahren ausgeflogen. Nach Bogotá und weiter in die Welt. Noch heute kommt kaum jemand zurück. Das liegt vor allem auch an der jüngeren Vergangenheit - als Kolumbien im Drogengeld schwamm. Der Überfluss der achtziger Jahre sorgte nämlich dafür, dass die einheimische künstlerisch wertvolle Theaterkultur durch vornehmlich US-amerikanische Unterhaltungskultur ausgeblutet wurde. Zu wohltuend war die Ablenkung für die gebeutelte Gesellschaft. Das vielfältige politische Theater der sechziger Jahre wurde als zu anstrengend empfunden. Wie schwer es heute ist, die Menschen von Bucaramanga mit Kultur zu erreichen und für eine künstlerische Produktion zu sensibilisieren, haben wir 2016 mit unserer ersten FAMILIARTE-Produktion erlebt. Doch seither hat sich glücklicherweise doch einiges in der Stadt verändert. Die öffentliche Kunst- und Musikschule tritt zunehmend nach außen, spricht und kommuniziert ihr künstlerisches Wirken. Und das jahrelang sanierte Theater der Stadt - das Teatro Santander - ist seit April diesen Jahres endlich spielbereit. Ausgestattet mit bester Technik. Eine Perle in Kolumbien. Eine große Chance für die Menschen von Bucaramanga. Denn sie sind für die herausragenden Künstler des Landes – wie beispielsweise das Colegio del Cuerpo – zur beliebten Spielstätte avanciert.
Die erste Ausgabe unseres Festivals planten und organisierten wir über zwei Jahre lang. Meine kolumbianischen Freunde wollten unbedingt Künstler aus Deutschland einladen. "International“ verkauft sich in Kolumbien besser. Ich wehrte mich gegen eine Version des reinen „Kultur-Imports“ – mir war der interkulturelle Dialog wichtig. Und bestand deshalb darauf, einen kolumbianischen Künstler in das Stück einzubauen. Leider sprang der eigentlich vorhergesehene kolumbianische Schauspieler – gebürtig aus Bucaramanga und heute ein nationaler Star – kurzfristig ab. Ein anderes Verständnis von Verbindlichkeit und Zeitgefühl gehört auch zu Kolumbien. Genauso wie die Magie von spontanen Lösungen - eine Version des magischen Realismus. So begegnete mir genau zu diesem Zeitpunkt in München ein kolumbianischer Ballett-Tänzer. Er war – als ehemaliger Solist des Balletts vom Gärtnerplatztheater und zugleich Schauspieler – eine optimale Alternative. Perfekt. Fast zumindest. Denn dieser Tänzer – nennen wir ihn Luis – lebte bereits seit über dreißig Jahren in Deutschland und hatte sein Land in all diesen Jahren kaum besucht. Schnell wurde vor Ort klar, dass ich mich in seinem Heimatland inzwischen sehr viel besser auskannte. Für uns beide ein seltsames Gefühl. Luis hatte sein Land in den achtziger Jahren – zum Höhepunkt des Drogenkriegs – verlassen. Der Tanz war seine Befreiung – aus dem armen Viertel seiner Kindheit, wo er zwischen Straßenbanden, Verbrechen und Morden bei der Großmutter aufwuchs. Der Anblick von Leichen und tödlichen Gefechten gehörten als Kind zu seinem Alltag. Drogen zu seiner Jugend. Das Kolumbien von heute ist nicht mehr das gleiche Land. Somit war er trotz allem doch irgendwie eher eine Art „Kultur-Import“ aus der Vergangenheit, denn ein Sprachrohr kolumbianischer Künstler der Gegenwart.
Mit diesem kolumbianischen Tänzer war ich schon einen Monat vor Beginn unserer ersten FAMILIARTE-Produktion in Kolumbien – zum Proben und Vorbereiten, aber auch, weil ich interaktive Workshops zum Wert von Kultur geben wollte. Erwachsene und Kinder dafür sensibilisieren, was Kunst und Kultur für uns und unsere Gesellschaft bedeuten können. Dafür besuchten wir zunächst private Schulen: Ich spielte Klavier oder Keyboard – Luis tanzte dazu. Wir sprachen auf spanisch und deutsch, erzählten vom Tanz und Theater. Die Kinder konnten mit uns erfahren, dass es eine Welt jenseits von Kolumbien und purer Unterhaltung gibt. Der Besuch einer kleinen privaten Grundschule – La Ronda – war dabei besonders spannend – kam es doch dem gewünschten kulturellen Dialog tatsächlich näher. Die Kinder spielten alle in einer Band, sangen und tanzten, führten uns Luftartistik-Tricks vor und liefen auf Stelzen. Hier folgt die Direktorin dem Prinzip, dass Ängste zu überwinden sind. Sie selbst wollte als Kind immer auf der Bühne stehen, ihre eigene Angst hatte sie jedoch daran gehindert. Der Austausch mit diesen Kindern war eine große Bereicherung – wir luden sie ein, beim Festival aufzutreten. Was sie dann auch taten.
Erschütternd hingegen war unser erster Besuch in einer öffentlichen Schule. Im ärmsten Teil der Stadt. In Kolumbien gibt es ein großes Gefälle zwischen privaten und öffentlichen Schulen. Die armen Kinder gehen auf die öffentliche Schule, die Kinder reicher Eltern auf eine private. Gebäude, Ausstattung, Bildung unterscheiden sich auf das Extremste. Die mangelnde Bildung in den öffentlichen Schulen ist sicherlich einer der Hauptgründe dafür, dass die kolonialen Herrschaftsstrukturen weiterhin so tief verankert sind und von Generation zu Generation weiterleben können. Mangelnde Chancen durch mangelnde Bildung. Auf der Suche nach dieser öffentlichen Schule fragten wir Menschen auf der Straße nach dem Weg. Der Großteil schien irgendwie mit Drogen zugedröhnt zu sein. Erschreckend. Auch die Schule als Ort an sich: vernachlässigt, schmutzig, unzumutbar. Keine Scheiben an den Fenstern. Hitze und Lärm von draußen und aus anderen Räumen drang permanent in die kleinen überfüllten Klassenzimmer hinein. Wie sollen sich Kinder so konzentrieren und irgendetwas lernen können? Auch in unserem Raum waren viel zu viele kleine uniformierte Kinder gepfercht. Die überforderte Lehrerin erkämpfte sich mit Militärmaßnahmen ab und zu für wenige Augenblicke Ruhe. Grausame Methoden, aber scheinbar ihre einzige Möglichkeit, um für Aufmerksamkeit zu sorgen.
Wir versuchten, unser Programm mit den Kindern zu gestalten, wurden jedoch immer wieder durch Lärm von draußen und drinnen unterbrochen. Einige Kinder hingen mit großen Augen und offenen Mündern an unseren Lippen. Ich hoffte noch immer, sie erreichen zu können. Auch, als mein kolumbianischer Tänzer-Kollege anfing zu verzweifeln. Etwas an dieser Situation schien ihn zu triggern – mit Sicherheit erinnerte es ihn an seine eigene schwere Kindheit und Jugend. Er ließ die Kinder in einer Reihe aufstehen und fragte nach ihrem Berufswunsch. Fast alle Jungen wollten zum Militär wie ihre Väter. Dort sind die armen Kolumbianer. Die Reichen wollten ihr Leben nicht für den Bürger- oder Drogenkrieg hergeben und kauften sich von der Dienstpflicht frei. Luis verlor die Fassung, schrie, wie wichtig Bildung sei, um Perspektiven zu schaffen und einem Schicksal zu entkommen, das häufig ein Leben zwischen Gewalt und Gefängnis bedeutete. Dann fragte er die Kinder, ob ihre Eltern im Gefängnis seien. Viele hoben die Hand. Es war bestürzend – die gesamte Situation! Auch zu erleben, wie dieser erwachsene Tänzer, der in Deutschland seine Karriere gemacht hatte, selbst noch durch das Trauma seiner Kindheit in Armut und der damit verbundenen Gewalt-Spirale litt. Zu spüren, wie tief Armut und Gewalt, aber auch ein gefühltes Opfer-Dasein sich in einen Menschen graben können. Wir brachen ab. Gaben auf. Ich sah die enttäuschten Augen der wenigen aufmerksamen Kinder. Es schmerzte. Vielleicht hätten wir diesen Kindern einen Schimmer am Horizont ihrer Armut eröffnet.
Diese Erfahrung arbeitete noch lange in mir. Sie ist auch heute präsent, wenn ich darüber nachdenke, wie die deutsch-kolumbianische Kulturbrücke im Rahmen des Friedensprozesses so funktionieren kann, dass diese ungerechten Strukturen wirklich aufgebrochen werden und wir auf Augenhöhe künstlerisch und menschlich miteinander kommunizieren können. Der Besuch einer anderen öffentlichen Schule – mit künstlerischer Ausrichtung – wurde mir zum hoffnungsvollen Beispiel und Inspiration für eine neue Ausrichtung von FAMILIARTE. Um die hundert Kinder – auch hier aus armen Familien – folgten aufmerksam unserem Programm und blühten geradezu auf, als wir sie irgendwann spontan dazu aufforderten, ihr Talent zu zeigen. Sie sangen, tanzten, spielten Pantomime, rezitierten Gedichte und erzählten Geschichten. Und waren sehr stolz, dass nun wir ihnen aufmerksam zuschauten. Wir nahmen sie ernst. Der Beginn eines künstlerischen Dialogs.
Und genau hier liegt für mich der Schlüssel für die Zukunft von FAMILIARTE und der deutsch-kolumbianischen Kulturbrücke: Wir müssen vor allem einheimische Kinder aus sozial schwachen Familien ansprechen. Ihnen die Möglichkeit geben, Kultur zu erleben. Sie auch auf die Bühne holen und gemeinsam den kreativen Schaffensprozess durchleben. Sie in einen Dialog mit nationalen und internationalen Künstlern bringen. Ihren Horizont erweitern, sie ihren eigenen Wert erleben lassen. Ein Theaterstück gemeinsam entwickeln, proben, auf die Bühne bringen und am Ende den verdienten Applaus entgegennehmen. Und gleichzeitig ist diese deutsch-kolumbianische Brücke der Kultur zweigleisig: Es müssen auch kolumbianische Künstler nach Europa kommen. Wir müssen ihnen die Möglichkeit geben, gehört und gesehen zu werden. Ihnen zuhören, wenn sie künstlerisch ihr Land spiegeln. Sie haben viel zu erzählen.
Kunst und Kultur sind Wege, sich im Dialog zu begegnen und die tief verankerten und verinnerlichten (post-) kolonialen Strukturen zu durchbrechen. Es ist vielleicht kein einfacher Weg, denn unsere Ausgangspunkte sind sehr weit voneinander entfernt. Unsere europäische Vorstellung von künstlerischem Schaffen, unsere Bildung und das ausgeprägt kritische Denken und Hinterfragen stehen in einer langen Tradition mit hohen Ansprüchen. Doch wir sollten aufhören, künstlerisches Schaffen immer sofort zu werten, denn ist nicht auch die Wertung schon eine Art von Machtausübung? Künstlerisches Wirken muss nicht immer unseren "Qualitätsstandards" genügen. Wir sollten vielmehr auf das achten, was in uns während eines Theaterstückes geschieht. Werden wir berührt? Und falls ja, wo und wie berühren uns die Kunst und die Künstler? Ich möchte Authentizität spüren. Und auch junge Künstler in Kolumbien dazu ermutigen, authentisch und ehrlich in ihrem Wirken zu sein. Vielleicht wird das künstlerische Ergebnis im Dazwischen liegen, doch ist nicht genau dort – im Dazwischen – eine Kunst möglich, die uns alle angeht? Weil sie uns allen etwas über unser universales Menschsein erzählt, über unsere Wünsche, unsere Ängste, unsere Widersprüche und unserer tiefen Sehnsucht nach Frieden. Ein gleichberechtigter Dialog jenseits von post-kolonialen Herrschaftsstrukturen. Ich suche noch immer danach. Die deutsch-kolumbianische Brücke der Kultur. Wir bauen weiter. Steinchen für Steinchen.
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