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Im Land der Zwerge

Im Land der Zwerge

Noch bevor ich die Augen öffnete, spürte ich die Wärme der Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Einige Augenblicke lang zögerte ich noch den Moment des Aufstehens hinaus, genoss diese sanfte Wärme. Ich wusste bereits, dass mich die Sonne und wahrscheinlich ein blauer Himmel erwarteten. Ich liebte es, wenn mein erster Blick am Morgen in das Grün der Baumwipfel fiel. Das war der heimliche Grund, warum ich die Aufenthalte auf dem Land immer öfter zu wiederholen suchte.

 

Ich trat auf den Balkon und blickte in den Garten. In den Himmel, in die Weite. Welch ein Geschenk. Ich atmete diese Ruhe tief ein. Da fiel mir plötzlich der lebhafte Gesang eines Vogels auf. Laut und beharrlich. Nicht zu überhören. Als wollte er auf sich aufmerksam machen, um etwas sehr wichtiges zu erzählen. Ich suchte ihn mit den Augen, doch zunächst sollte ich nur sein Gezwitscher wahrnehmen. Erst später, als ich mit einer Tasse Kaffee in den Garten trat, konnte ich ihn entdecken. Es war eine kleine Amsel. Sie sang noch immer lauthals und intensiv. Neugierig beobachtete ich den Vogel und musste lächeln als ich sah, wie er um die Gartenzwerge flog, ja, sich geradezu zwischen ihnen zu bewegen schien. Fast so, als wolle er auf die Zwerge einsprechen. Und zwar auf das Eindringlichste.

 

Die Zwerge waren alle klein, nur einer unter ihnen ragte etwas heraus. Er war der einzige, der etwas in den Händen hielt: Eine Sonnenblume. Mein Lieblingszwerg war jedoch ein anderer, dessen Farbe schon stark verblasst war. Er war der Ursprungszwerg im Haus, der älteste unter ihnen. Meine Großeltern hatten ihn zu Anfangszeiten des Hauses selbst ausgesucht. Liebevoll nannten wir ihn nach den Anfangsbuchstaben ihrer beiden Vornamen: JoMa. Für Johannes und Maria. Beide waren inzwischen schon seit vielen Jahren verstorben. Die Zwerge standen still und lächelten verschmitzt den kleinen Vogel an, der so bedeutendes zu erzählen hatte. Wie seltsam, diese Angewohnheit, Gartenzwerge aufzustellen. Ich hatte mich nie gefragt, warum das so war, hatte nur – wie vermutlich alle Kinder – früher eine spontane Zuneigung zu den kleinen Wesen empfunden, die mit dem Garten verbunden schienen und immer fröhlich sympathisch in die Welt blickten. Sie waren den Kindern auf Augenhöhe.

 

Es war ein herrlicher Morgen, ein richtiger Frühsommer-Tag. Meine Wanderung führte mich durch den tiefgrünen Wald und blühende Wiesen. Bienen, Hummeln, Mücken und andere Insekten summten und brummten durch die sommerliche Morgenluft. Ich genoss die Vormittagsstimmung sehr, die Wiesen und den Wald, der bald die überraschend schnell ersehnte Abkühlung schenkte. Weit ging die Wanderung, vorbei an alten Bauernhöfen, die teilweise immer noch bewirtschaftet waren. Vor einem dieser alten Höfe war meine Lieblingsbank. Dort saß heute eine kleine, verrunzelte alte Frau, die mich mit gebrochener Stimme grüßte – fast so, als habe sie auf mich gewartet. Sie kniff ihre Augen zu, um mich gegen das Licht besser sehen zu können, wie ich zunächst dachte. Bis ich bemerkte, dass ich überhaupt nicht in der Sonne stand. Schweigend saßen wir eine Weile nebeneinander. Doch als ich nach der wohltuenden Rast weiter ging, rief sie mir leise hinterher: „Viel Vergnügen mit den Kleinen. Sie haben großes Glück. Aber passen Sie auf, dass Sie wieder nachhause finden. Es ist ein Labyrinth.“ Ich verstand nicht, was sie mir sagen wollte und dachte, dass sie wahrscheinlich alt und vergesslich sei und deshalb verwirrt etwas vor sich hin redete.

 

Es war eine lange Wanderung und als ich nachhause kam, freute ich mich sehr auf die Liege im Garten. Doch lange währte der Frieden nicht, bald schon hörte ich wieder den kleinen Vogel zwitschern. Dieses Mal war er in den Ästen des alten Pflaumenbaums, direkt über mir. Und er schien zu mir zu sprechen. „Was willst Du mir denn erzählen?“ fragte ich den kleinen Mann. „Ist dir einfach langweilig oder gibt es etwas Wichtiges?“ Der kleine Vogel flog weg, kam aber gleich wieder zurück. Dies geschah einige Male, bis ich ihm folgte. Bis zu den Zwergen. Hier verstummte der Vogel fast schlagartig. Und flog schließlich weg. Ließ mich mit den Zwergen alleine.

 

Ich schaute sie mir genauer an. Der kleinste unter ihnen trug ein gelbes Hemd und eine blaue Hose, die Arme hatte er hinter dem Rücken verschränkt und blickte mich ernst, aber freundlich an. Alle hatten ihre langen roten Zwergenhüte auf. Warum eigentlich trugen sie diese? Der alte Zwerg, JoMa, war der einzige in kurzen Ärmeln. Er stand etwas abseits der Gruppe. Und plötzlich schien er mir zuzublinzeln. Ich musste innerlich über mich selbst lächeln. Bis er mir wieder zublinzelte. Dieses Mal rieb ich mir die Augen. Das konnte doch nicht sein. Und doch. So war es. Und nicht nur das. Stand JoMa vorher noch wie die zwei anderen kleinen Zwerge mit den Armen hinter dem Rücken verschränkt, so schien er nun auf die Gruppe zuzugehen. Fasziniert starrte ich auf die drei Zwerge. Sie schienen ein Eigenleben zu entwickeln. Etwas leuchtete aus ihrem Lächeln hinaus. Und plötzlich konnte ich ihre Stimmen vernehmen, die sich über mich lustig machten: „Also, die steht echt mal auf dem Schlauch.“ „Wie lange sollen wir denn noch warten? Bis ihre Synapsen endlich verknüpft sind, sind wir längst zu spät.“ „Wofür zu spät?“ fragte ich die Zwerge. „Na, hallo. Sind wir auch mal so weit? Hat Madame endlich ihre Augen und Ohren geöffnet und erbarmt sich anderer Lebewesen?“

Verblüfft schaute ich die Zwerge an – seit wann konnten sie denn sprechen? Doch ich kam kaum zum Nachdenken, da JoMa mich direkt an die Hand nahm und bestimmt mit sich fort zog. Ich folgte neugierig und war erstaunt, als wir plötzlich vor einer Steinformation standen, die wir als Kinder aufgrund ihres Aussehens immer „Hocker und Sessel“ genannt hatten. JoMa schlupfte zwischen Hocker und Sessel durch und zog an mir. „JoMa, wie soll das denn gehen? Da passe ich sicher nicht durch!“ JoMa antwortete mir in strengem Ton: „Du musst den Stein schon selbst zur Seite schieben. Ist ja schließlich auch Dein Hindernis!“ Ich musste lachen. Wo er Recht hatte, da hatte er Recht. Ich schob den Stein zur Seite, trat durch den Schlitz und war schlagartig von tiefer Finsternis umgeben. Noch ein Schritt und ich fiel. Weit ging es hinunter, ich verlor das Bewusstsein. Als ich aufwachte, lag ich auf einem kleinen Felsvorsprung, umgeben von einem Gebirge aus rotem Buntsandstein. Ich setzte mich auf und blickte mich um. Da waren sie, die Zwerge. Doch nicht nur meine vier aus dem Garten. Um mich herum standen so viele von ihnen, dass ich dachte, ich sei in einem riesigen Zwergenmeer. Die langen roten Hüte wogten sachte hin und her. Wie von einem unsichtbaren Wind bewegt, der mir jedoch verborgen blieb. Alle blickten mich an und schienen nur darauf gewartet zu haben, dass ich die Augen öffne. „Warum bin ich hier?“ fragte ich die Zwerge. „Das wirst Du selbst heraus finden,“ sagte JoMa und trat aus der Masse hervor. Ich war richtig erleichtert, als ich ihn sah. „JoMa!“ rief ich vor Freude, „begleitest Du mich?“ Er schmunzelte mich an und erwiderte: „Ein Stück des Wegs, ja.“ Und so zogen wir los. JoMa und ich. Er leuchtete mit einer kleinen Laterne durch die Dunkelheit der Höhle, denn wir gingen immer tiefer in den Berg hinein. Die Wände waren feucht und JoMa hielt ab und zu an, um nach mir zu sehen. Die Gänge wurden immer enger, die Decke kam bedrückend tief hinunter. Zum Glück hatte ich noch nie unter Platzangst gelitten. Ich folgte dem kleinen Mann rechts in eine Abzweigung. Dort ging es noch einige Meter geradeaus, bis wir plötzlich in einer riesigen Halle standen. Hoch wölbte sich die Decke über uns, weit waren die Wände. Rechts erblickte ich einen riesigen unterirdischen See, auf dem ein kleines Boot lag. JoMa hieß mich einsteigen, doch anstatt mit hineinzuspringen, gab er dem Boot einen Stoß und winkte zum Abschied. Mir wurde bange. „JoMa! JoMa! Warum kommst Du denn nicht mit?“ rief ich, als es um mich herum schwarz wurde. Das Boot schnellte durch das Wasser, es schien bergab zu gehen. Ab und zu schwappte etwas kaltes Wasser in das Boot und ich schrie kurz auf.

 

Ich weiß nicht, wie lange diese turbulente Fahrt dauerte – im Nachhinein kommt sie mir nur noch wie wenige Sekunden vor. Mit einem Schlag jedoch wurde es plötzlich sehr hell. Meine Augen waren überhaupt nicht mehr an das Licht gewöhnt und so erkannte ich nichts. Reflexartig hielt ich mir die Hände vor die Augen. Ganz langsam gewöhnten sie sich an die Helligkeit. Ich blinzelte. Das, was mich umgab, war so unwirklich schön, dass ich es kaum fassen konnte. Ich befand mich auf einem malerischen See, umgeben von schönstem Wald. Weiden hingen romantisch in das Wasser, Seerosen schwammen darauf und ich sah Bäume, die ich noch nie gesehen hatte: Es waren nämlich riesige Blumen-Bäume. Eine Mischung aus Bäumen und Blumen, wie eine Art Riesen-Blume mit kräftigem Stamm tief im Boden verwurzelt. „Oh, wie schön!“ rief ich vor lauter Begeisterung und war sehr überrascht, als ich ein „Danke!“ hörte. „Wer spricht mit mir?“ fragte ich. Die Antwort folgte prompt: „Na ich, der Margaritenbaum. Ich dachte, Du meintest mich.“ Was? Hier gab es nicht nur Bäume, die ich noch nie gesehen hatten, sondern diese konnten auch noch sprechen. Wo war ich nur? Als ich das Ufer erreichte, legte ich an, vertaute das Boot an einem alten Steg und sprang an Land. Eine unbestimmte Abenteuerlust hatte mich ergriffen.

 

Ich blickte mich um und sah die wunderlichsten Pflanzen. Manche waren stellenweise bemalt und schienen wie ein Gemälde eine eigene Geschichte auf ihrer Rinde zu erzählen. Fasziniert las ich darin, verstand jedoch nicht, was sie mir sagen wollten. Was ich jedoch bemerkte, war, dass die Schönheit des bunten Waldes voller gemalter Bücher mich tief berührte. Ich fühlte mich größer als ich war, nahm eine längst vergessene Leichtigkeit in mir wahr. Überall war ein Gesäusel zu hören war, das aus geflüsterten Worten, gesummten Melodien, spannenden Harmonien und perkussivem Klopfen bestand. Die Musik der Pflanzen. Eine Klangwelt, die ungemein friedlich und beruhigend auf mich wirkte. Plötzlich jedoch hörte ich ein Summen über mir, das immer lauter wurde. Als ich in den Himmel blickte, sah ich direkt in die riesigen Augen einer übergroßen Mücke. Kurz erschrak ich vor diesem ungewohnten Anblick. Doch schnell erkannte ich, dass sie mich lediglich ruhig ansah und nichts von mir zu wollen schien. Dann verblasste sie wieder und es war, als wäre sie niemals da gewesen.

 

Wie beflügelt lief ich durch diesen sprechenden und singenden Wald. Von weitem sah ich ein wunderschönes kleines Schlösschen, das einladend auf meinen Besuch zu warten schien. Ich wanderte dahin, freute mich an dem Gesang der Vögel und der rhythmischen Klopf-Begleitung der Bäume, lauschte hier und da, was ein Baum mir zu erzählen hatte und gelangte schließlich zu dem Schloss. Am Eingang wurde ich von zwei kleinen Mäusen empfangen, die mich hinein begleiteten. Innen hörte ich wunderbare Klaviermusik und erblickte im großen Festsaal einen weiß strahlenden Flügel. Ich wunderte mich, denn es gab keinen Pianisten – der Flügel spielte ganz von alleine. Es waren ganz ungewöhnliche Klänge und Tonfolgen, fast so, als würden nicht nur die Tasten, sondern der gesamte Körper des Instrumentes gespielt werden. Ich ließ mich von der Musik entführen, versank in diese intensive singende Welt.

 

Doch auf einen Schlag wurde ich von der Realität überrumpelt. Ich hätte in diesem Schloss alles erwartet: Einen Prinzen auf einem weißen Pferd, vielleicht auch Feen oder das Königspaar höchstpersönlich. Alles, nur nicht das, was ich nun erblickte: Ein riesiger Zwerg. Er sah aus wie ein richtiger Zwerg, etwas rundlich und durchaus sympathisch, aber er war ungefähr doppelt so groß wie ich selbst. Und somit sicherlich zwanzigmal so groß wie die normalen Zwerge. Seine lange rote Zwergenmütze hatte er weit nach hinten geschoben, um durch die Flure und Gänge des Schlosses zu wandeln. Verständlich. Schließlich würde er sonst an der Decke hängen bleiben. Sobald er in der Mitte des Festsaals stand, rückte er sie zurecht. Nun ragte die rote spitze Mütze aus der Kuppel des Schlosses hinaus. Bis in den Himmel. So groß war er, wenn er gerade stand.

 

„Was hat Dich denn hierher verschlagen?“ fragte er mich mit lauter, tiefer Stimme und schüchterte mich damit ein. „Ich weiß es auch nicht so genau, ehrlich gesagt. Ich bin einfach immer weiter gegangen und stand auf einmal hier.“ „Du bist also ziellos herum gestreunert. Sag das doch gleich laut und deutlich. Und jetzt bist Du bei uns gelandet. Welcher von meinen Zwergen hat Dich zu uns geführt?“ Ich zögerte kurz, wollte JoMa nicht verraten, doch der Zwergenriese konnte scheinbar Gedanken lesen. „Heraus mit der Sprache. Ich finde es sowieso heraus!“ Kleinlaut stammelte ich vor mich hin. „Lauter!“ forderte mich der Zwerg auf, „Ich bin schwerhörig!“ „JoMa hat mich mit genommen,“ antwortete ich laut und deutlich. „Na, sag das doch gleich,“ brummelte der große Zwerg vor sich hin. „Das hätte ich mir eigentlich denken können... JoMa... JoMa...“ Er schüttelte seinen großen Kopf missmutig. „Na gut, jetzt wo Du schon mal da bist, kann ich es Dir auch verraten: Es geht um das Gold. Es gibt nämlich ein großes Missverständnis. Ihr Menschen denkt, dass wir das Gold für uns horten. Wozu sollten wir das tun? Ihr denkt das, weil Ihr selbst so seid. Aber ich verrate Dir: Das stimmt nicht. Und jetzt gibt es wegen diesem Missverständnis ein Riesenschlamassel.“ „Was für ein Schlamassel?“ fragte ich vorsichtig. Ruppig antwortete er mir: „Schau Dir doch mal die Erde an! Was passiert denn bei Euch? Scheinbar hat niemand verstanden, dass das Gold, das Ihr so sehr jagt, in das Wasser gehört und dass das grüne Gold für Euch lebensnotwendig ist. Naja, und deshalb gibt es jetzt das ganze Chaos. Also, was ist? Hilfst Du uns, dass das Gold wieder ins Wasser kommt? Das wäre gut, weil dann müssten wir auch nicht mehr alles hier horten. Alles klar?“ Nein, gar nichts war klar. Ich hatte das Gefühl, dass der Zwerg eine vollkommen andere Sprache sprach als ich und sich scheinbar auch nicht vorstellen konnte, dass ich als Mensch seine rätselhaften Worte nicht verstehen konnte. Wie sollte ich ihm klar machen, dass ich anders aufgewachsen war? „Herr Zwerg, ich habe nicht alles verstanden. Könntest Du mir vielleicht ein paar Beispiele geben?“ Ungeduldig erwiderte der Zwerg, dass er keine Zeit habe, aber dass ich schon alles verstehen würde. Ich solle einfach mit offenen Augen und Ohren im Zwergenland spazieren gehen. Dann verabschiedete er mich, das heißt, er setzte mich vor die Tür des Schlosses, das eigentlich viel zu klein für ihn war. Wer sollte diese Welt schon verstehen können?

Ich war kaum wieder im Zauberwald von Zwergenland unterwegs, in dem alles mit allem zu sprechen, zu singen und zu musizieren schien, als ich den kleinen Vogel wiedersah, der mich zu den Zwergen geführt hatte. „Hey, Du. Amsel! Kannst Du mir vielleicht helfen?“ Ich war inzwischen kaum noch erstaunt, dass die Amsel, eigentlich der Amsel, denn es war ein Männchen, mit mir zu sprechen begann und dazu noch zu wissen schien, mit was er mir helfen konnte. Er sprach so ruhig und angenehm, so liebevoll und klar, wie ich selten einen Menschen hatte reden hören. Er sprach von der Schönheit der Welt, von der Bedeutung des Waldes und der Pflanzen und wie wir alle von diesen – dem grünen Gold – abhingen. „Ohne die Pflanzen können wir nicht leben, denn uns fehlt die Luft zum Atmen. Ohne die Pflanzen kein Sauerstoff.“ Ja. Das wusste ich doch. Dann führte er weiter aus, dass neben dem grünen Gold das Wasser die Grundlage allen Lebens sei. Wasser ist in uns und wir sind Wasser. So wie das Wasser in uns, so sei unsere Welt. Wir bräuchten also harmonisches Wasser, wenn wir in Frieden leben wollen. In uns und um uns. Wenn wir viel singen würden, könnten wir das Wasser in uns harmonisch stimmen. Doch wenn wir viel streiten würden, dann verlören wir diese Harmonie. Wasser ist also wie die Achse eines Rades. Das Zentrum, um das sich alles dreht. Aller Anfang und Ende. „Ja, gut. Aber was hat das Wasser nun mit dem Gold zu tun?“ fragte ich weiter, denn die Amsel schien mir etwas zu weit abzuschweifen. Sie mahnte mich zu Geduld und erwiderte, dass sie schon noch dazu kommen werde.

 

Wir Menschen hätten uns vom Glanz des Goldes fehlleiten lassen. Dabei habe das Gold an sich keinerlei materiellen Wert – es sei lediglich zur Harmonisierung des Wassers gedacht. Hingegen ist ein harmonisches Wasser für uns lebenswichtig. Wenn wir Wasser trinken würden, das mit Gold in Berührung gekommen sei, würden wir Frieden und Weisheit erlangen. Dann würden wir endlich verstehen, dass unser Streben nach Gold fatal sei, insbesondere, weil es so weit gehe, dass wir dabei auch noch die Pflanzen und das Wasser zerstörten. Unseren eigenen Lebensraum und unsere Lebensgrundlage.

 

So klar, wie mir das der Amsel erklärt hatte, hatte mir noch niemals jemand die Zusammenhänge der Welt erklärt. Ich verstand langsam, dass die Zwerge es sich zur Aufgabe gemacht hatten, das Gold zu verwahren, damit es nicht in falsche Hände gelänge und unsere Welt somit noch ein Quäntchen Hoffnung auf Frieden habe. Doch, wie konnte ich nun den Zwergen helfen, dass das Gold wieder in das Wasser käme? Das konnte oder wollte mir die Amsel auch nicht sagen. Sie meinte, ich müsse das selbst herausfinden. „Viel Glück!“ rief sie fröhlich und flog davon. Da stand ich nun. Und wusste nicht einmal, wie ich jemals wieder zurück in die Menschenwelt kommen würde. Plötzlich fühlte ich mich unendlich klein und hilflos.

 

Da musste ich plötzlich an die alte Frau auf der Bank denken: Sie hatte gewusst, dass ich in diese schöne Welt nach Zwergenland reisen würde und hatte mich vor dem Labyrinth gewarnt. Wie konnte man jemals wieder aus einem Labyrinth entkommen? Ich müsste JoMa oder die anderen aus dem Garten wiederfinden – sie könnten mir doch helfen. Vielleicht wüsste der Riesenzwerg, wo JoMa sein könnte. Ich blickte mich um, doch das Schloss war verschwunden. Als hätte es nie existiert. Ich geriet in Panik – wie sollte ich jemals wieder zurückkommen, wenn sich alles beständig änderte? Ich versuchte, mich zu beruhigen und fragte mich, was denn so schlimm daran wäre, in dieser schönen Welt zu bleiben. Schöner als meine Stadtwohnung war dies hier ja allemal. Trotzdem. Ich wollte zurück. In mein Leben.

Ich konzentrierte mich. Dachte über alles nach, was mir an diesem Tag geschehen war. Die alte wissende Frau. Ihr Hinweis auf das Labyrinth. Ein Labyrinth, das immer irgendwie zur eigenen Mitte führte und immer einen Ausgang hatte, selbst wenn man sich im Weg irrte. Ich würde also auch aus dem Zwergenland wieder herausfinden. Das Wasser und das Gold, die Felsen und die Berge. Der Vogel und die sprechenden Bäume. Ich blickte mich um und sah plötzlich einen wunderschönen See mit klarem Wasser direkt vor meinen Füssen. Ich neigte mich hinunter, um daraus zu trinken. Das Wasser war herrlich erfrischend. Ob es wohl mit Gold versetzt war? Als ich einen weiteren Schluck nehmen wollte und mich abermals zum Wasser neigte, blickte ich plötzlich wieder in die Riesenaugen der übergroßen Mücke. War dies mein Spiegelbild? Was war noch Traum und was Wirklichkeit? War ich etwa diejenige, die darüber entschied, was ich sah? Da wusste ich schlagartig: Ich konnte einfach zurück gehen. Nachhause. Ich musste es nur entscheiden. Überlegen, wo ich sein wollte und dann entscheiden. Ich legte mich langsam auf den weichen Moosboden und schloss die Augen. Die warme Sonne streichelte meine Haut. Ich konzentrierte mich.

 

Noch bevor ich die Augen öffnete, spürte ich die Wärme der Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Einige Augenblicke lang zögerte ich noch den Moment hinaus, genoss diese sanfte Wärme. Ich wusste bereits, dass mich die Sonne und wahrscheinlich ein blauer Himmel erwarteten. Ich liebte es, wenn mein erster Blick am Morgen in das Grün der Baumwipfel fiel. Dann öffnete ich die Augen und wusste: Ich war zurück.

Seit dieser Begegnung mit den Zwergen und der Reise nach Zwergenland sind viele Jahre vergangen. Ich bin erwachsen geworden. Doch das Gold ist leider immer noch nicht im Wasser. Und unsere Lebensgrundlage noch immer bedroht. Manchmal erscheint es mir, als sei diese Reise ins Land der Zwerge ein Traum gewesen. Doch seit einiger Zeit begegnen mir die Zwerge  wieder. Sie sind immer noch eifrig damit beschäftigt, uns Botschaften aus der Tiefe der Erde mitzuteilen. Wie die Mittler zwischen dem Erdinneren und uns. Wir sollten ihnen zuhören. Sie erinnern uns daran, dass wir nicht mehr und nicht weniger als ein Teil der Natur sind. Teil eines großen Rades, das sich beständig weiter dreht. Mit oder ohne uns.

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Kommentare: 1
  • #1

    Ernst Lipps (Donnerstag, 11 Juli 2019 18:32)

    Das sind goldene Worte der Erkenntnis:

    "Seit dieser Begegnung mit den Zwergen und der Reise nach Zwergenland sind viele Jahre vergangen. Ich bin erwachsen geworden. Doch das Gold ist leider immer noch nicht im Wasser. Und unsere Lebensgrundlage noch immer bedroht. Manchmal erscheint es mir, als sei diese Reise ins Land der Zwerge ein Traum gewesen. Doch seit einiger Zeit begegnen mir die Zwerge wieder. Sie sind immer noch eifrig damit beschäftigt, uns Botschaften aus der Tiefe der Erde mitzuteilen. Wie die Mittler zwischen dem Erdinneren und uns. Wir sollten ihnen zuhören. Sie erinnern uns daran, dass wir nicht mehr und nicht weniger als ein Teil der Natur sind. Teil eines großen Rades, das sich beständig weiter dreht. Mit oder ohne uns."

    Der Mensch hat es in seiner Hand, jeder der Milliarden, in seinem Kosmos dafür etwas beizutragen. Und wenn wir das nicht begreifen, sind wir die Dinosaurier dieses Jahrhunderts. Eine sterbende Großkopfrasse, die nichts mehr in der kosmischen Planung zu suchen hat. Denn die Natur wird uns nicht vergeben und nicht verzeihen, Mutter Erde und Vater Himmel, wie die Mongolen sagen, kann ihre Kinder nicht retten, wozu? Das müssen die schon selbst tun, die Milliarden. Das geht aber nur durch Bewusstsein, Brain, Konsequenz, Liebe, Handeln, leben.

    Sie, ja wie soll ich Sie nennen? Erzählerin, Storytellerin, was auch immer, Ihre Neugierde, Ihre Entdeckerlust, Ihr Wagemut und Ihre dichterische Art, kommen alle zum Kern der Sache. Ich beobachte das, es fasziniert mich, Ihre geistige Potenz, und ich scheue mich nicht die Bohne, das zu sagen und zu schreiben. Denn, die Uhr tickt, für uns alle, wenn schon um Öl Kriege geführt werden und Wasser knapp und verdreckt wird. Die Profiteure der globalen Kriege, sie haben kein Gewissen, die wollen Gold. Häuptling Seattle hat das dem Weissen Häuptling in Washington damals geweissagt: Vielleicht erkennt Ihr dann, dass wir alle Brüder und Schwestern (das letere hat er nicht gesagt, Emanzipation war damals unbekannt) sind. Dann werdet ihr verstehen, dass man Geld nicht essen kann - wenn der letzte Baum gestorben ist.

    Ob Zwergen- oder Riesenland, ddr Mensch hat nichts begriffen!