Der alte Mönch und sein Reich
Der alte Mönch schleppte sich zur Türe. Es hatte geklopft. Stürmisch. Als er endlich bei der schweren alten Holztüre angelangt war, welche die Villa von der Außenwelt trennte, stand niemand davor. Er blickte sich um. Sein Reich. Es war bereits fast dunkel. Die vertrauten Schatten der alten Bäume verbargen alles, was kleiner war als sie selbst. Bevor er wieder zurück in das Haus ging, fiel sein Blick auf einen kleinen Beutel, der außen am Türknauf hing. Er nahm ihn mit in die Villa hinein und öffnete das Band, das den Sack verschlossen hielt. Es waren einige Äpfel darin. Und – zu seiner Überraschung – ein Schlüssel. Wie kam der denn da hinein? Und was für ein Schlüssel war das? Er nahm den Schlüssel heraus und legte ihn auf die Kommode im Eingangsbereich. Vielleicht würde sein Besitzer ja hier danach suchen.
Am nächsten und übernächsten Tag klopfte es wieder. Immer um die Nachmittagszeit. Jedes Mal war er zu langsam. Und jedes Mal hing ein Sack mit Äpfeln an der Tür. Ohne Nachricht. Und ohne einen weiteren Schlüssel. Der alte Mönch wunderte sich. Wer und warum hinterließ ihm jemand immer einen Sack Äpfel an der Türe? Um dies herauszufinden, beschloss er, den nächsten Nachmittag in einem Sessel im Gang direkt neben der Türe zu warten. Als am darauf folgenden Tag wieder geklopft wurde, öffnete er die Türe so schnell es ihm möglich war. Vor ihm stand eine junge Frau asiatischer Herkunft, die in gebrochenem Deutsch erklärte, dass ein Schlüssel aus dem Haus nebenan verloren sei und sie wisse, dass er hier sei. „Ja, in der Tat,“ erwiderte der alte Mönch. Er ließ sie eintreten und gab ihr den Schlüssel von der Kommode. „Ja, das ist er!“ freute sich die Frau. „Ist das Ihrer?“ fragte der Mönch. „Nein. Er gehört einer Kollegin. Sie sucht ihn schon seit ein paar Tagen.“ Als er sie fragte, ob die Äpfel auch von ihr seien, blickte sie ihn erstaunt an. „Welche Äpfel?" schienen ihre Augen zu fragen. Seltsam. Sie erzählte, dass sie in der Kulturinstitution nebenan arbeiten würde. „Doch warum wussten Sie, dass Sie den Schlüssel hier finden würden?“ fragte der Mönch. Statt einer Antwort blickte ihn die Frau vieldeutig an, zuckte mit den Schultern und meinte dann zögerlich: „Manches weiß ich einfach. Vielen Dank.“ Sie verabschiedete sich und ließ den alten Mann mit seinen Fragen stehen. Der Schlüssel und ein Sack voller Äpfel - wie gehörte das zusammen? Er kam jedoch nicht dazu, weiter über diese Begegnung nachzudenken, denn kurz darauf klopfte es wieder stürmisch. Er öffnete sofort die Türe, erwartete nochmals die junge Frau. Wahrscheinlich hatte sie etwas vergessen. Umso erstaunter war er, als er eine alte, verwirrt wirkende Frau sah. Sie hatte einen Sack in der Hand, der denen glich, die er die letzten drei Tage an der Türe gefunden hatte. Sie schien sehr erschrocken über seinen Anblick und lief – weiterhin mit dem Beutel in der Hand – unsicher schwankend und laut vor sich hin schimpfend weg.
Der alte Mönch grübelte. Es kam ihm vor, als habe er sie schon einmal gesehen. Sie wirkte geistig verwirrt. Verrückt. Sie war auffällig mit ihren langen, offenen, grauen Haaren und einem langen Rock, der wie aus einer anderen Zeit gefallen schien. Die Damenmode seiner Kindheit. Doch inzwischen waren Jahrzehnte vergangen. Dennoch war ihm, als käme sie direkt aus der Vergangenheit mit ihren Äpfeln. Was wollte sie von ihm? Und warum war der Schlüssel, den die asiatische Frau bei ihm wusste, in ihren Sack mit Äpfeln geraten? Was hatten diese beiden Frauen miteinander und mit ihm zu tun? Er hatte zu lange gelebt, um zu wissen, dass es im Leben keine Zufälle gab.
Im Haus würde er dies allerdings nicht herausfinden. Deshalb beschloss er, eine Runde im Park der Villa spazieren zu gehen. Es war ein weitläufiger Park mit altem Baumbestand. Er liebte diesen Ort, die alten Bäume. Sie vermittelten ihm immer ein Gefühl von Ruhe. Gelassenheit. Sein ganzes Erwachsenen-Leben hatte er an diesem Ort verbracht. Seit dem Zeitpunkt, an dem er sich entschieden hatte, in den Orden der Jünger des Blutes Christi einzutreten. Damals war er gerade zwanzig Jahre alt geworden. Er hatte den Ruf des Herrn früh vernommen und sich – gegen den Willen seiner Eltern – dem Leben in der Gemeinschaft verschrieben. Diese Entscheidung hatte er nie bereut, war der Orden bei aller Strenge und Regelwerk für ihn immer ein Ort der inneren Freiheit gewesen. Zeit seines Berufslebens hatte er als Buchhalter in unterschiedlichen Firmen der Stadt gearbeitet. Er hatte gerne gearbeitet, mochte die Struktur des Alltags. Spirituellen Halt hat ihm dabei das Leben in der Brudergemeinschaft gegeben. Gemeinsam beteten sie morgens und abends. Auf diese Weise kümmerten sie sich um das geistige Wohlbefinden der Gesellschaft, vor allem aber auch des Ortes, an dem sie lebten. Sie aßen in Gemeinschaft und ehrten Gott – auch durch ihr zölibatäres Leben. Dieses Gleichgewicht aus Spiritualität einerseits und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben andererseits hatte ihm sein Leben lang inneren Frieden geschenkt. Über diesen Frieden war er alt geworden. Wie die meisten seiner inzwischen wenigen noch lebenden Mitbrüder.
Die Brudergemeinschaft hatte das Anwesen – die Villa mitsamt umliegendem Park – nach Ende des Zweiten Weltkriegs erworben. Zu Beginn der sechziger Jahre ließen sie auf dem Gelände ein eigenes Kloster bauen. Dieses Gebäude zählt heute zu den herausragenden Beispielen der Architektur der sechziger Jahre und steht inzwischen unter Denkmalschutz. Zweistöckig und gleichschenklig verzichtet das Gebäude – nach dem Schrecken des Nationalsozialismus – ganz bewusst auf jegliche Machtsymbolik. Alles ist deshalb streng symmetrisch angeordnet. Man könnte dies auch als ‚demokratisch’ beschreiben oder als Ausdruck von Gleichwertigkeit interpretieren. Alle Räume sind von identischer Größe und Ausstattung in der Form eines Quadrates um die Mitte herum angelegt. Zentrum und Herzstück ist die Kapelle, der heilige Ort des Gebets – ebenfalls ein quadratischer Raum, der als einziger Ort des Klosters tiefer in den Boden gebaut ist. In die Erde hinein gegraben, wie eine Höhle. Nach oben hin ist das Gebäude luftig – dank einer Glasfenster-Decke, die das Licht großzügig hinein fließen lässt. Geborgenheit und Weite zugleich. Das hatte der alte Mönch immer an diesem Kloster geliebt. Farblich war der Bau äußerst schlicht gehalten. Die weißen Wände wurden um hellbraune Buchentüren und Wandelementen ergänzt. Lediglich eine rote Linie durchzieht das gesamte Gebäude an Treppengeländer, Fensterverstrebungen und Türrahmen. Dies sollte an das Blut Christi erinnern.
Als er vor über sechzig Jahren in die Bruderschaft eintrat, fühlte er sich im Kloster sofort zuhause. Hier hatte er zwanzig Jahre gelebt, bis die Gemeinschaft aus ökonomischen Gründen in die Villa umziehen musste. Die Heizkosten waren sprunghaft gestiegen, zugleich blieb der Nachwuchs aus. So sah das Kloster im Laufe der Jahre die unterschiedlichsten Mieter: einen Kindergarten, eine kleine Vertriebsfirma für elektronische Geräte, ein Gästehaus und viele weitere Unternehmen, die der alte Mönch schon längst vergessen hatte. Keiner der Mieter blieb lange. Manchmal schien es ihm als läge ein Fluch auf dem Bau. Umso mehr freute ihn, dass nun schon seit zehn Jahren die Kulturinstitution im Kloster ein Zuhause gefunden hatte. Das Unternehmen schien zwar mehr schlecht als recht zu funktionieren, doch dem alten Mönch war dies unter allen Mietern das geringste Übel. In seinen Augen hatten Kunst und Kultur – wie auch die Religion – einen ähnlichen höheren geistigen Sinn und Zweck. Vielleicht hatten sie es deshalb so lange in dem Kloster ausgehalten?
Der alte Mönch wusste – wie alle seine Brüder – um die dunkle Geschichte des Ortes. Es gehörte zu den grundlegenden Pflichten der Gemeinschaft, sich lebenslang um dessen spirituelle Reinigung zu kümmern. Deshalb beteten sie täglich mindestens zweimal – oft auch dreimal – gemeinsam für den Ort, für die Verstorbenen, für die Opfer und Täter. Für die Vergebung der Sünden und den ewigen Frieden. Während des NS-Regimes hatte einer der ranghöchsten SS-Offiziere die Villa als Sommer-Residenz beschlagnahmt. Er hatte hier in der Villa gelebt, geatmet, gedacht und seine entsetzlichen Pläne geschmiedet. Doch damit nicht genug: Kurz vor Kriegsende ließ er noch geschwächte Häftlinge aus dem nahegelegenen Konzentrationslager innerhalb kürzester Zeit eine Mauer um seinen Besitz bauen. Wie, um sich zu verstecken. Welch Irrsinn! Viele der erschöpften Gefangenen starben dabei. Und diejenigen, die nicht starben, wurden nach verrichteter Arbeit erschossen und direkt im Park in eine Grube geworfen, die sie zuvor selbst ausheben mussten.
Als der Orden den Grund erwarb, ließen sie die Mauer entfernen und errichteten an der Stelle des Massengrabes ein Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Direkt daran anschließend bauten sie ihr neues Kloster. Um die Toten in Frieden ruhen zu lassen, ging man mit dem Gebäude nicht in den Boden. Allein die Kapelle als Herzstück und Ort des Gebetes wurde tiefer gesetzt. Vielleicht würde die Kraft der Gebete aus dem Boden heraus noch stärker wirken. Der alte Mönch glaubte – wie der gesamte Orden – an die Wirkung ihrer Gebete. Nun, während er so durch den Park spazierte, kamen ihm jedoch leise Zweifel. Irgendwie schien etwas in Unruhe zu sein. In ihm. Und somit an diesem Ort. Nachdenklich kehrte er in die Villa zurück.
Die seltsamen Apfel-Botschaften der alten Frau hielten weiter an. Und als eines Tages die asiatische Nachbarin wieder vor seiner Tür stand, kam er nicht umhin, sich der Frage zu stellen, ob er sich vielleicht nicht doch in all den Jahren geirrt hatten. Hatten ihre Gebete dem Ort vielleicht doch keinen Frieden gebracht? Die Nachbarin stellte sich aus Gründen der Einfachheit als Marie vor – ihr chinesischer Name sei zu kompliziert. Dieses Mal war der Grund ihres Besuchs kein Schlüssel. Sie sei hier, um ihm mitzuteilen, dass er mit ihr in das Kloster gehen müsse. Auf sein Nachfragen bekam er keine Antwort. Stattdessen bedeutete sie ihm mit einer Geste zu schweigen. Er gehorchte und folgte ihr in das Kloster. Sie führte ihn in einen Raum, der einst der Arbeitsraum des Ordens-Verwalters gewesen war. Dieser Raum lag in der äußersten Ecke des Klosters. Richtung Osten. Sonnenaufgang. Morgenröte. Heute schien es das Büro der Sekretärin zu sein – eine Art Empfangsraum, wenn auch am Ende eines langen Gangs fast versteckt hinter all den anderen Räumen, an denen der Besucher erst vorbei gehen musste. Marie deutete auf eine Ecke zwischen Fenster und Außenwand: hier standen einige Zimmerpflanzen, die sehr mitgenommen aussahen. Marie wies ihn mit Gesten an, in diese Ecke zu gehen. Als er ihrer Aufforderung folgte und in der Ecke stand, spürte er, wie es ihm kalt den Rücken hinunter lief. Er verstand nicht, was sie von ihm wollte, doch er wusste, dass er diesen Raum auf der Stelle verlassen musste. Sofort. Mehr noch, er hielt es plötzlich nicht mehr im Kloster aus, ihm fiel das Atmen schwer und er lief auf den Vorplatz. So schnell, wie er es seit seinen Arthrose-Schüben eigentlich nicht mehr konnte. Dorthin, wo seit nun sechzig Jahren die Gebeine der Ermordeten vergraben waren. Blieb endlich stehen. Kam langsam wieder zu Sinnen. Was wollte diese Marie, wie sie sich nannte, von ihm? Was geschah in diesem Zimmer?
Er fühlte sich außerordentlich schwach, als er zurück in Richtung Villa ging. Dort hing – wieder einmal – ein Sack mit Äpfeln an der Tür. Was sollte das? Was wollten diese zwei seltsamen Frauen von ihm? Waren sie verrückt oder – vielleicht das Gegenteil davon – besonders weise? Er ahnte, dass all diese Botschaften etwas mit dem Ort zu tun hatte. Fast schien es ihm, als wolle der Ort mit ihm sprechen. In Ordnung, dachte der alte Mönch, dann höre ich mal zu, was Du mir zu sagen hast. Er zog sich einen leichten Mantel über, es wurde nun früher dunkel, die Tage wurden kürzer und die Luft kälter. Bevor er wieder das Haus verließ, sprach er ein kurzes Gebet und bat seinen Gott um Führung. Dann ging er versunken und zugleich äußerst aufmerksam durch den Park. Spürte das Gras weich unter seinen Füßen. Kam am Nutzgarten vorbei, den Bruder Josef versorgte. Die Kürbisse waren noch nicht geerntet. Im Park standen einige Skulpturen – Kunstwerke eines Nachkriegskünstlers, der diese dem Orden teilweise geschenkt, teilweise verkauft hatte. Auch diese Kunstwerke sollten dem Ort den Frieden zurückgeben. Jede einzelne Skulptur war eine Hommage an eine der Menschengruppen, die im Zweiten Weltkrieg verfolgt worden waren: Juden, politisch Andersdenkende, Sinti und Roma, Behinderte, Homosexuelle. Der alte Mönch war schon immer besonders berührt gewesen von der Skulptur des Behinderten – der Blick, die Augen, die diese seltsame Freude ausstrahlten, wie sie nur Kindern oder Behinderten eigen ist, drückten für ihn immer einen Funken von Göttlichkeit aus. Er blieb lange vor seiner Lieblingsskulptur stehen. Statt wie sonst in diesem wundersamen Blick zu versinken, folgte er ausnahmsweise dessen Augen und erschauderte, als er bemerkte, dass diese genau in jene Ecke des Klosters blickten, aus der er zuvor geflohen war. Schlagartig wusste er, dass er dorthin müsse. Widerwillig – voller Furcht – folgte er diesem Impuls. Als er die Ecke erreichte, schien er den Boden unter den Füßen zu verlieren: Ein Apfelbaum. Doch nicht irgendein Apfelbaum, sondern der, dessen Äpfel die alte Frau ihm seit einigen Tagen an die Tür brachte. Ihm war, als schnürte sich ein Netz immer enger um ihn: die alte Frau mit den Äpfeln, Marie, die ihn in diese Ecke des Klosters geführt hatte, die kranken Pflanzen in jenem Zimmer, sein Unwohlsein. Auf einmal wusste er: Die Pflanzen sprechen die Wahrheit. Und scheinbar verstanden die beiden Frauen, die ihn aufgesucht hatten, ihre Sprache. Doch was hatte er damit zu tun? Geschah dies, weil er sich so lange selbst als Hüter des Ortes gefühlt hatte?
Er blieb still stehen, wusste er sich doch unter seines Gottes Schutz. Konzentrierte sich auf seinen Atem, der stärker war als die Angst. Und hatte plötzlich das Gefühl, in das Innenleben des Klosters blicken zu können. Jenseits von Grenzen der Zeit. Das Gebäude erschien ihm ungemein verletzlich, durchsichtig und transparent. Er sah trostlose Gespräche, besessene Menschen, orgiastische Liebesspiele, depressive Menschen, die kaum vom Bett in das Badezimmer kamen, in Psychopharmaka erstickte Gefühle verzweifelter Menschen auf der Suche nach irgendwas. Die unfruchtbaren Versuche einiger Bewohner sich selbst zu definieren. Alles verschwamm, verlor sich, wurde in Alkohol ertränkt. Er sah den übergewichtigen alten Direktor der Kulturinstitution krank am Stock durch das Haus humpeln. Sein stinkender Atem durchdrang die Wände und jagte Angst in die Herzen der Bewohner, die sich versteckten und sich nicht mehr aus dem Zimmer wagten, bis er endlich das Haus verlassen hatte. Es war, als habe der Ort entschieden, sich zu wehren. Wollte die Eindringlinge vertreiben, die Pflanzen, die Menschen. Jene Menschen, die den Ort betraten, schienen sich selbst fremd zu werden. Wurden schlagartig besessen, eifersüchtig, gewalttätig, respektlos, böse, voller Hass. Es war, als hätten sich die Toten verschworen und gemeinsame Rache geschworen. Ein Kampf, der weit über Leben und Tod hinausging. Wie konnte man dies nur beenden?
Er musste seine Augen abwenden. Blickte um sich herum. Und erschrak zutiefst, als er hinter dem Zaun, der den Park von der Straße trennte, die alte Frau sah. Sie schaute durch die Bretter direkt zu ihm. Taxierte ihn geradezu mit ihrem stechenden Blick. Schnell wandte er sich ab. Doch auf der anderen Seite blickte Marie aus dem verhexten Zimmer zu ihm. Er war gefangen zwischen den Blicken dieser beiden Frauen. Er schloß die Augen, zitterte. Und spürte, wie er von Soldaten mit Gewehren umzingelt war. Sie würden auf ihn schießen. Damit er in die Grube fiele wie die anderen zuvor. Der Krieg war fast vorbei, fast hätte er alle Grausamkeit überlebt. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. War dies der Tod?
Als er seine Augen wieder öffnete, glaubte er sich in seiner Jugend. Er befand sich in seiner Klosterzelle von damals, lag auf seinem Bett und fühlte sich unendlich wohl. Sachte richtete er sich auf – alles schmerzte – und bemerkte, dass er sich geirrt hatte. Eine tiefe Traurigkeit überkam ihn. Nein, es war nicht seine Jugend. Er war alt. Unendlich alt. Ihm gegenüber standen die asiatische Frau, Marie, wie sie sich nannte, und die alte Frau im langen Rock. Sie fragten ihn, ob er Wasser trinken wolle und erzählten ihm, dass er im Park in Ohnmacht gefallen sei. Ja. Er erinnerte sich. Dankbar nahm er das Glas Wasser.
Lange blickte er die beiden Frauen an und fragte dann: „Können wir diesen Ort retten?“ Sie nickten ganz sachte. Und auf einmal brach es aus ihm heraus: So lange war er sich sicher gewesen, dass die Gebete den Ort bereinigten. Und nun war alles anders. Etwas stimmte nicht mehr oder hatte noch nie gestimmt. Der Ort schien zu schreien. Was konnte er, ein alter, achtzigjähriger Mann, noch unternehmen? Er musste etwas unternehmen, konnte ja nicht warten, bis Schlimmeres geschah. Als alles gesagt war, fühlte er eine große weite Leere in sich.
Die beiden Frauen hatten ruhig zu gehört. Wissend. Das beruhigte ihn. Langsam begannen sie zu sprechen. Bestätigten seine Vermutungen. Ja, der Ort ruft nach Ruhe. So viel Böses war hier geschehen. Ja, er sei der Hüter des Ortes. Nun habe er selbst erlebt, was dieser Ort an menschlicher Grausamkeit erdulden musste. Es sei genug. Schluss. Es sei Zeit, ihn loszulassen. Vollkommen. Kein Denkmal, kein Kloster, kein Gebet, kein Mensch könne das zu tun, was die Natur vermag. Er müsse den Bau der Natur überlassen. Der alte Mönch schwieg lange. Er ahnte, dass die beiden Frauen Recht hatten. Aber er wusste auch, dass sie den denkmalgeschützten Bau nicht der Natur überlassen konnten. Schon aus rechtlichen Gründen nicht. Sie waren verpflichtet, das Gebäude vor dem Verfall zu schützen. Und dann wusste er: Das Kloster musste seinem ursprünglichen Zweck zurückgegeben werden. Es musste wieder Kloster sein. Ein Ort der Spiritualität. Eine andere Lösung gäbe es nicht.
So kam es, dass der alte Mönch den Mietvertrag mit der Kulturinstitution kündigte. Alle Bewohner zogen aus, das Kloster stand wieder leer. Für kurze Zeit. Dann zog er mit seinen verbleibenden Brüdern zurück. Er spürte, dass dieser Schritt richtig war. Sie hätten das Gebäude nie verlassen dürfen. Der alte Mönch war erfüllt von großer Freude, denn er spürte, wie Frieden in ihm und dem Ort einkehrte. Die Gemeinschaft der mittlerweile nur noch drei lebenden Brüder erlebte einen letzten Schwung, den sie nutzten, um das Kloster in seiner Spiritualität zu erhalten. Sie entschieden sich, den Ort für alle Betenden zu öffnen. So wurde das Kloster ein Treffpunkt aller Religionen. Ein Schweigekloster. Ein Rückzugsort für Menschen, die Ruhe benötigten. Ein Ort des Gebetes.
Und endlich, eines Tages bemerkte der alte Mönch, dass auch die Pflanzen im Kloster wieder blühten. Da wusste er, dass er gehen konnte. Seine Lebensaufgabe war erfüllt.
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Der Geist und die Seele sagen (Dienstag, 02 Juli 2019 03:59)
es ist die Nacht und der Morgen,
die hoffen lassen auf die Morgenröte, die Farben der Sonne.
Nicht das große Universum oder die Ewigkeit,
das Kleine, das Hier und das Jetzt.
Die Begegnung der Sekunden, der Augenblicke, des Unerwarteten,
entscheidend für das Sein.
So schreibe ich Mensch und bewahre die Dinge im Kosmos der mächtigen Zeit.
Paradoxie des Vergänglichen, Narrativ, Widerspruch.
Aufbegehren und Untergang, blühen im Verwelken,
Endlichkeit.
Die Wunderdroge des ewigen Menschenlebens wird
in den geheimen Tresoren gehütet, die Planeten sind auserwählt für die Kolonisierung
des 22. JAHRHUNDERTS, die Manie schlägt Kapriolen.
Nun gut, so soll es sein. Aber, der kleine Mensch,
der Staunende und der demütig Begrenzte, er ist froh,
das Jetzt zu leben mit all seinen Sinnen,
hoffend auf die Kraft des Jungen, den roten Strahlen der Morgensonne.
Guten Morgen, Leserin