In meinem zweiten Teil der Annäherung an das, was Kunst und künstlerisches Schaffen ausmacht, möchte ich über das Spirituelle in der Kunst nachdenken: Kunst als Weg der Transzendenz und der Erkenntnis, was uns als Menschen ausmacht und miteinander verbindet. Es soll weniger ein theoretischer Text werden als vielmehr die Erzählung einer solchen Erfahrung. Dennoch möchte ich zunächst meine Gedanken herleiten, denn sie gründen vor allem auch in den Gedanken eines Autors, den ich regelmäßig immer wieder lesen muss – so spannend und gehaltvoll sind seine Erkenntnisse. Und so bereichernd die Lektüre seiner Werke. Es ist der US-amerikanische Intellektuelle Joseph Campbell, der sich mit Mythen als „kollektiven Träumen“ oder „Träumen unserer Gesellschaft“ beschäftigt hat. Er hat in den großen Menschheitserzählungen die verbindenden Elemente unseres Menschseins weit über kulturelle Unterschiede hinweg erkannt und benannt. Wie er in „The Power of Myth“ schreibt, bedeutet Kunst für ihn das Schaffen von Mythen als „Träume unserer Gesellschaft“. Deshalb hat der Künstler eine wichtige Aufgabe in der Gesellschaft: "The function of the artist is the mythologization of the environment and the world.“ - „Die Aufgabe des Künstlers ist die Mythologisierung seiner Umgebung und der Welt.“
Kunst ist für ihn aber auch eine Möglichkeit, das „Einssein“ oder das „Strahlen“ hinter den Dingen zu erkennen und zu erzählen: "The real artist is the one who has learned to recognize and to render what Joyce has called the „radiance“ of all things, as an epiphany or showing forth of their truth.“ - „Der wahre Künstler ist jemand, der gelernt hat, das zu erkennen und wiederzugeben, was Joyce den „Glanz“ aller Dinge genannt hat, das Leuchten oder Durchscheinen ihrer Wahrheit.“
Kunst bietet für Campbell eine Möglichkeit der Erfahrung von Transzendenz, des Überschreitens der Grenze des vernünftig Erfahrbaren. Kunst kann so ein von Menschen erschaffenes Erleben von Erhabenheit oder auch Göttlichkeit bedeuten, wie man das auf einem Berggipfel beispielsweise erleben kann.
Als ich Anfang dieses Jahres die konzertante Aufführung der „Walküre“ von Richard Wagner mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks als Inspizientin betreute, durfte ich eine solche Erhabenheit, ja eine Form von Transzendenz erleben. Es war die größte musikalische Erfahrung meines bisherigen Berufslebens. Dabei handelte es sich um ein Orchester, das normalerweise Konzerte spielt. Und nicht etwa Oper. Ein Orchester also, das Musik spielt, deren Zweck die Musik an sich ist. Oper jedoch fordert etwas anderes ein: es ist Musikdrama. Theater. Es geht um eine konkrete Handlung, um ein konkretes Ausdrücken von Worten, Gefühlen, Situationen. Musik steht also nicht für sich alleine, sondern „dient“ einer Erzählung. Die Walküre also bedeutete für das Symphonieorchester eine ungewöhnliche Herausforderung. Und mit welcher Freude und Hingabe haben sie sich ihr gestellt!
Dies lag mit Sicherheit auch an dem herausragenden Dirigenten, Sir Simon Rattle. Was für ein Mensch! Er zeichnete sich in seiner Arbeit – neben seiner großen Musikalität – durch eine unglaublich positive und beharrliche Art aus. Er kommunizierte auf Augenhöhe mit seinen Musikern und vergriff sich niemals – anders als manch anderer großer Künstler – im Ton. Er vermittelte eine genaue Vorstellung des Klanges. Entsprach die Ausführung nicht genau seiner Vorstellung, dann ließ er das Orchester diese Stellen unendlich oft wiederholen. Wieder und wieder sang er während der Proben bestimmte Passagen vor, wieder und wieder musste das Orchester oder einzelne Stimmen diese wiederholen. Dann lobte er vielleicht mal mit „a lot better.“ Und schob doch humorvoll ein „But not perfect yet“ hinterher. Lachte über sich selbst und ließ die Stelle nochmals spielen, bis er irgendwann zufrieden war und seiner Begeisterung über den Klang enthusiastisch Ausdruck verlieh. Unendlich viel Geduld und keinerlei Vorwürfe. Immer konstruktiv und ermutigend. Gemeinsam auf der Suche. Würdevoll. Und voller Freude. Das fand ich sehr besonders.
Und welch Sänger übernahmen die Rollen! Großartig. Künstlerisch, stimmlich, menschlich. Die Proben mit ihnen waren berührend. Magisch. Weil sie alles gaben. Sie sangen nicht für ein Publikum, sondern für die gemeinsam entstandene Musik. Um mit dem Orchester gemeinsam einen Klang zu schaffen, dem sie sich hingaben. Während der Proben standen sie oft zum Orchester gewandt. Von Angesicht zu Angesicht. Man spürte ihre Freude. Fast ein Staunen über den Klang des Orchesters. Sie gaben jeweils alles füreinander. Die Sänger für die Sänger-Kollegen, für das Orchester, für Simon Rattle. Das Orchester wiederum für die Sänger und für Rattle, der seinerseits alles zurück an seine Musiker gab. In gegenseitiger Ehrfurcht, Bewunderung und Hingabe entstanden unendlich berührende Momente.
Die Sänger blieben sogar dann noch im Zuschauerraum, als sie schon längst von der Probe entlassen waren. Um weiter in die Musik einzutauchen, sich von ihr berühren zu lassen. Baten darum, auch während der Vorstellung dann zuhören zu dürfen, wenn sie nicht sangen. Fast süchtig danach. Auch für die Opernsänger war dieses Erlebnis etwas besonderes, denn normalerweise spielt das Orchester in der Oper aus dem Graben, ist also für die Sänger auf der Bühne viel weniger zu hören. Hier jedoch spielte das Orchester hinter ihnen, die Sänger wurden also regelrecht vom Klang getragen. Welche Kraft, welche Energie floss hier zusammen! Wir alle verbunden in der einen Musik, in dem einen Moment. Dies spürte auch das Publikum während der Vorstellungen.
An manchen Stellen spürte ich geradezu körperlich den Klang des Orchesters. Eine Schwingung, die mir bis mitten ins Herz dringt. Vom Herzen aus verteilte sich dieser Klang dann im ganzen Körper. Warm und stark. „Licht in die Tiefe des menschlichen Herzens senden – das ist Kunst,“ schrieb Robert Schumann. Das finde ich auch. Als ich nach der Probe nachhause radelte – es war ein Samstagnachmittag und somit viel Trubel in Münchens Innenstadt – spürte ich immer noch im Herzen eine unendlich tiefe und warme Freude. Ein leises, aber ungemein großes Gefühl von Freude. Darum hatte ich mich für die Kultur entschieden. Für diese unendliche Freude, die so viel mehr wert ist als Geld. Die so viel tiefer geht als alltägliche Freuden. Eine Freude, die ich wohl nur in diesem Erleben von solchen ‚heiligen’ Momenten erfahre. Meine Arbeit. Pure Erfüllung.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, habe ich das seltsame Gefühl, dass auch ich die Sängerin und der Sänger bin und dass es überhaupt keinen Unterschied macht, ob ich nun singe oder nicht singe. Weil wir alle in diesem Moment Klang sind. Musik. Dann blicke ich auf die Straße und bin zugleich der Spaziergänger, später der Unbekannte in der U-Bahn. Kunst, die über sich selbst hinauswächst und in den Alltag hinein wirkt. Das ist die Kraft der Verbindung. Transzendenz. Auch deshalb brauchen wir Kunst. Wir überschreiten die Grenzen unserer Vernunft, unserer Sinne und unserer Individualität – kraft unserer Fähigkeit zur Empathie, zum Mitgefühl. Um zu erleben, dass wir alle eins sind. Musik ermöglicht uns diese Erfahrung. Das ist für mich die zentrale Kraft der Kunst. Das ist der Wert von Kunst. Auch deshalb braucht unsere Gesellschaft Kunst.
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Ernst Lipps (Montag, 13 Mai 2019 23:26)
Der Mensch glaubt, zu leben, aber,
er vegetiert, wie das Vieh, das glücklich ist, wenn
es frißt, säuft, fickt und verreckt, ohne
zu ahnen, dass,
der Mensch
um Sinn und Verstand
ringt,
vergebens,
denn er ist Teil der Natur.
Das verkraftet der Mensch nicht,
die Krone der Schöpfung in seiner
Selbstwahrnehmung: der Gierige, der Arrogante, der Brutale, etc.
Der Mensch und
die Transzendenz!
Frau Deike Wilhelm,
als ich Ihrer bewusst wurde,
ich Mensch,
wurde ich gewahr,
dass uns nur die Liebe retten kann - uns Menschen, sonst nichts.
Und ich liebte Ihren Anblick, aber,
nicht wie Menschen lieben, ich
liebte den Anblick wie
ein Toter nur lieben kann, der,
kein Mensch mehr ist,
mit all dessen Beschränkungen.
Lächerlich!
Das ist die Wahrheit der Toten und der Irren
Ernst Lipps (Sonntag, 26 Mai 2019 19:32)
Wenn Herz, Verstand und kompromißlose Konsequenz der Vernunft siegt,
über menschliche Dummheit und Manipulation,
sich nicht von Lügen und falschen Versprechen irreleiten lassen,
besteht berechtigte Hoffnung, dass der Mensch nicht mehr ein gefallener,
sondern Gott des eigenen Lebens ist.
Mensch und Gott,
in Würde und Freiheit.
Ohne Angst, dem Tod in sein Angesicht sehen.
Transzendenz menschlichen Seins,
geboren, gelebt, gestorben.
Das Abenteuer Leben.
Bálint Szabo (Donnerstag, 30 Mai 2019 13:58)
Klasse �