Verbrannt
Für eine zutiefst geliebte Person in meinem Leben, der ich mit dieser kleinen Geschichte Kraft zum Loslassen, sowie Mut und Vertrauen in den neuen Lebensabschnitt ohne materielle Bindungen wünsche. Auf in die Freiheit!
Herr A. hatte sein ganzes Leben in dieser Wohnung verbracht. Darin befand sich sein gesamtes Erbe, der Schmuck, die Gläser, die Möbel und alle Erinnerungen. Er fühlte sich geradezu als Hüter des Erbes seiner Vorfahren. Herr A. – Hüter der Dinge. Das Wegwerfen fiel ihm schwer. Er hatte Angst vor Verlust. Dem Verlust der Dinge. Fast neurotisch schloss er deshalb immer die Türen zu, am liebsten zweimal, wenn es das Schloß zuließ. Tagsüber, nachts, selbst die Türen zu den einzelnen Zimmern verschloss er, um sein Erbe zu schützen. Im Laufe der Jahre hatte sich dieser Zug in ihm verstärkt.
Herr A. liebte seine Arbeit, verschrieb sich ihr mit ganzem Herzen. Doch manchmal hatte er den Eindruck, dass sie ihn verschlänge. Dann fühlte er sich gehetzt. Und fand nur Ruhe in den eigenen vier Wänden. In diesen Momenten freute er sich noch mehr als sonst auf sein Zuhause, auf all die Dinge, die ihm dort ein Gefühl von Wohlbehagen vermittelten. Er umgab sich gerne mit Menschen. Jedoch wohldosiert. Immer wieder sehnte er sich nach seinem Zuhause und den Dingen, die ihm scheinbar Sicherheit und Schutz gaben. Dann setzte er sich auf sein Sofa und öffnete eine Flasche Wein. Zu schöner Musik und Kerzenlicht ließ er seine Gedanken spazieren. Nicht selten betrachtete er einfach seine Umgebung, die Möbel und Bilder. Schwelgte. Und empfand dabei Freude.
Herr A. hatte schon immer die Sonne und das Licht geliebt. Und immer gesucht. Doch inzwischen hatte er das Gefühl, sie wirklich zu brauchen, um nicht in Depressionen zu verfallen. So hatte er sich seit einigen Jahren angewöhnt, die lausigen Wintermonate in wärmeren Gefilden zu verbringen. Wie die Zugvögel, die an angenehmeren Orten überwinterten. Recht hatten sie, fand er.
Als er wieder einmal in einem solchen Zugvogel-Urlaub weilte und sich an der Sonne erfreute, ereilte ihn jedoch eines Tages eine Nachricht, die sein Leben auf einen Schlag komplett verändern sollte: Feuer. In seiner Wohnung. Sein Zuhause sei vollkommen ausgebrannt. Totalschaden. Die dringende Gefahr einer Gasexplosion hatte bestanden, das Haus sei deshalb evakuiert worden.
Glücklicherweise sei niemand zu Schaden gekommen. Dennoch: er habe alles verloren. Sein Zuhause, all die geliebten Dinge, sein Erbe. Von einer Sekunde zur nächsten war Herr A. nicht nur obdachlos, heimatlos, sondern hatte auch seinen inneren Sinn verloren: Es gab nichts mehr zu hüten. Keine Vergangenheit, keine Erinnerung. Das alte Klavier – Erbstück aus dem vorherigen Jahrhundert -, das zwar lange schon nicht mehr zu spielen war, von dem sich Herr A. jedoch aus nostalgischen Gründen nicht trennen konnte. Die Vase von Tante Marta, die zwei Weltkriege und die Flucht aus Ostpreußen überlebt hatte. Nun war sie in seinen Händen zerbrochen. Der Verlobungsring seiner Großmutter. Der Reisekoffer seines Onkels, der vor hundert Jahren schon Argentinien gesehen hatte, das Mobiliar von der Hochzeit seiner Urgroßeltern, das alle weiteren Generationen mit Leben gefüllt hatten. All die vielen geliebten Dinge, die seine Vorfahren im Laufe der Jahrzehnte, im Laufe eines Jahrhunderts, angesammelt hatten – sie waren ihm nun entronnen. Herr A. besaß nichts mehr außer dem kleinen Koffer, den er bei sich hatte.
Herr A. buchte den nächsten Flug zurück, um sich schnellstmöglich ein Bild seines Verlustes zu machen. Als er vor den Trümmern seiner Wohnung stand, erschien ihm alles unwirklich. Erst vor wenigen Monaten hatte er sich einen neuen Kühlschrank, eine neue Waschmaschine und Spülmaschine gekauft. All diese Geräte lagen in einem Schutthaufen vor dem Haus. Brandherd sei ausgerechnet der neue Kühlschrank gewesen. Das käme äußerst selten vor. Doch ihm war es nun passiert. Sein Zuhause – ein schwarzes Loch, über das nun Feuerwehr und Polizei, Hausverwaltung und Versicherung wachten. Das Schloss war bereits ausgetauscht, er musste sich den Schlüssel bei der Polizei holen. Die Ermittlungen liefen noch. Da stand er nun – mit seinem kleinen Koffer. Inmitten der Trümmer. Umhüllt vom beißenden Geruch nach Rauch, der ihm den Atem zu rauben schien. Sein ganzer Besitz waren nun einige leichte Sommerhosen und –Hemden. Sonnencreme. Vielleicht hätte er einfach dort bleiben sollen, wo er überwintert hatte.
Inmitten des Trümmerhaufens begann er durch Schutt und Asche zu wühlen. Auf der Suche nach etwas. Nach was, das wusste er selbst nicht. Nach irgendwelchen Resten, die er retten könne. Erkannte hier und da die Fragmente von Briefen, Karten, Tellern, Tischdecken, Gläsern. Zusammengeschmolzene Kabel, die mit Boden-Stücken, Plastikflaschen und Pizza-Verpackung seltsame Gebilde darstellten. Einen Hammer. In einem plötzlichen Ausbruch der Verzweiflung schlug er mit diesem unversehrten Hammer auf die Reste seines Besitzes ein. All sein Hab und Gut – ein Trümmerhaufen. Der penetrante Geruch nach Rauch und Russ hatte sich tief verankert, schnürte ihm das Herz zu und sollte ihn noch die nächsten Wochen bis in die Träume verfolgen. Ihm liefen die Tränen über die Wangen.
Irgendwann gab er auf und ging – mit seinem kleinen Koffer in der Hand – durch die Straßen. Ziellos. Wohin auch gehen, wenn man kein Zuhause mehr hat? Er irrte umher, bis er irgendwann in einem alten Friedhof in der Nähe seines bisherigen Zuhauses zur Ruhe kam. Seine Lieblingsbank war sogar frei. Immerhin. Es war Ende Februar, doch die Sonne schien schon warm vom Himmel. Die Krokusse blühten. Wenigstens etwas. Er schloss die Augen, hielt sein Gesicht der Sonne entgegen. Er fühlte sich leer. Die letzten Tage hatten ihm alle Energie geraubt. Erst der Schock, das Unglauben. Dann Verzweiflung und Wut. All diese Gefühle hatten ihn gefordert, eingefordert. So viele Tränen hatte er vergossen – aus Schreck, Wut und Trauer. Nun fühlte er sich wie sein Zuhause: ein schwarzes, ausgebranntes, leeres Loch. Schutt und Trümmer. Verwüstet. Er atmete tief ein und versuchte, alle Gedanken wegzuschieben. Einfach nicht zu denken. Wie schwierig das war.
Irgendwann spürte er, dass sich jemand zu ihm auf die Bank gesetzt hatte. Er öffnete die Augen und sah eine alte Frau. Er nickte ihr zu und grüßte. Sie antwortete ihm herzlich und fügte gleich hinzu, was für ein herrlicher Tag heute doch sei. Herr A. seufzte tief und erwiderte: „Ja, ein herrlicher Tag. Und trotzdem der schlimmste Tag meines Lebens...“ „... zumindest seit dem Tod meiner Eltern,“ fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. „ Meine Wohnung ist ausgebrannt. Mit all meinen Sachen. Absolut allem. Ich habe mein Zuhause verloren. Der Koffer ist das einzige, was ich überhaupt noch besitze.“ Mitfühlend hörte die alte Dame ihm zu und er begann, von all den geliebten Dingen zu erzählen, die er nun verloren hatte. Von den Erbstücken, die so viel erlebt hatten und die er nicht vor ihrem Ende hatte beschützen können. All sein Kummer, all seine Trauer über den Verlust floss aus ihm heraus. Die alte Dame hörte ruhig zu, fragte hier und da etwas nach. Als der Fluss der Worte irgendwann langsam versiegte bis er ganz verstummt war, starrte Herr A. vor sich hin. Starrte ins Nichts und hörte die alte Dame wie aus der Ferne zu ihm sprechen: „Es tut mir furchtbar leid, was Sie erlebt haben. Aber wissen Sie, junger Mann, jetzt sind Sie vom Ballast Ihrer Vorfahren befreit. Heute können Sie endlich anfangen, Ihr eigenes Leben zu leben.“ Er blickte sie an, fast vorwurfsvoll. Was sollte das? Doch ihr Blick ließ ihn verstummen. Von ihr ging eine Sicherheit und Klarheit aus, eine Ruhe und Wärme, die stärker waren als das, was er sagen wollte. „Sie müssen nicht mehr mit Dingen leben, denen Sie sich verpflichtet fühlen. Sie werden nicht abgelenkt von Sachen, die anderen Menschen viel bedeuteten. Ihr Leben wird weder von der Vergangenheit noch vom Außen bestimmt, denn das ist verloren. Ihr Leben kann nur noch in Ihrem Inneren beginnen. Das ist ein großes Geschenk. Stellen Sie sich das doch mal vor: nun dürfen Sie sich die Zeit nehmen, um in Ruhe durch hübsche Läden zu schlendern und sich genau das eine Glas selbst auszusuchen, das Ihr Herz höher schlagen lässt. Und aus diesem Glas werden Sie trinken, voller Dankbarkeit und sich mit jedem Schluck an Ihrem eigenen Leben freuen. Ihr Leben wird sich in diesen Dingen, die sie selbst ausgesucht haben, widerspiegeln und diese Dinge werden Ihre Lebensfreude noch verstärken. Wissen Sie, wie viele Menschen sich nach genau solch einem Zustand sehnen? Menschen bringen viel Zeit und Kraft auf, um sich nach und nach von ihrem Besitz zu trennen, um wieder klar zu sehen, um wieder Luft zum Leben zu haben. Bei Ihnen ging das plötzlich, ohne Mühe, ohne Zweifel. Es ist einfach alles weg. Das wünschen sich viele Menschen." Sie schloß ihre Rede und meinte energisch: "Also, junger Mann, das heute ist Ihr Glückstag.“ Er hatte ihr zugehört und wusste, dass sie in so vielem Recht hatte. Und plötzlich musste er einfach lachen. Fühlte sich ganz leicht und befreit. Absurd. Nun gab es nichts mehr außer ihn selbst. Ihn und sein Leben. Er konnte, nein, er musste nun ganz neu anfangen. Bei sich.
Ganz still und leise spürte er auf einmal einen Hauch von Hoffnung in sich. Wie eine Ahnung. Er versank in sein Inneres. Und sah, wovon er früher immer geträumt hatte und irgendwann einfach aufgehört, nicht mehr zu träumen gewagt hatte. Er war befreit, ja, sogar glücklich. Seine neue Wohnung war viel kleiner. Diese richtete er fast spartanisch ein. Locker, luftig, mit viel Raum für das Leben. Er sah, wie er mit Hingabe einige wunderschöne Dinge aussuchte. Dinge ohne Vorgeschichte. Dinge, die ihn jetzt glücklich machten. In seiner Wohnung, in seinem Leben, in ihm war spürbar Platz für Neues. Er sah sich Neues ausprobieren. Und darin Freude finden. Er konnte förmlich sehen, wie die neue Leere ihm Fülle schenkte. Platz und Raum. Verrückt. Auch Menschen traten in sein Leben, deren Begegnung und Freundschaft ihn mit neuer Freude erfüllten. Für sie war früher scheinbar kein Platz gewesen. Weder im Außen noch im Innen.
Nur die Balkonpflanzen würde er mitnehmen. Sie würden ihn daran erinnern, dass er zwar Altes verloren, doch dabei so viel Neues gewonnen hatte. Sie würden in seinem neuen Garten blühen. Befreit. Wie er.
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Ernst Lipps (Donnerstag, 07 März 2019 04:45)
Deike Wilhelm,
was sind Sie doch für eine Hexenmeisterin der erzählenden Worte! Ich muss gestehen, ich bin Ihren Geschichten verfallen und habe gewartet, dass bald eine neue kommt. Es klingt töricht, aber es ist so. Und ich wollte nicht schon wieder einen Kommentar dazu schreiben, aber ich muss. Es ist seltsam im Leben der Menschen, an was sie sich klammern, nach was sie suchen, um was sie kämpfen und was sie verlieren, nämlich alles - am Ende.
Ich habe mich gefragt, warum schreibt sie?
Blöde Frage, wenn man was in der Birne hat, dann muss das raus. Monologe sind langweilig, es sei denn man hat so Attitüden wie der Mann in der neuen Geschichte der Frau Wilhelm. Sie ist eine Erzählerin, ganz in der Tradition aller Erzählenden, aller Nomadenfrauen. Sie wandern durch ihr Leben, durch die Räume ihres Seins, lesend, handelnd, erzählend. Sie sind Magier. Und ja, der feste Ort ist nicht ihre Bleibe, sie ziehen durch Räume und Zeiten.
Wo doch jeder alles und jedes besitzen will, um sich selbst zu verlieren.
Die Form, welche Form? Die des Feuers, des leuchtenden, verzehrenden, die des Wandels.
Ja, des Wandels! Verbrennt die Welt, In Euren Köpfen, in Euren Herzen, in Eurem Sein. Baut alles neu im Geist, trennt Euch vom Alten, geht einen Schritt weiter, lebt Revolution.
Der Geist braucht Freiheit, die Materie nicht.
In einer kleinen, wunderschön verpackten Geschichte, steckt die Botschaft: Befreie Deinen Geist.
Lass' deine Ketten zurück und gehe in Dein Leben.
Guten Morgen, Frau Wilhelm,
der Tag beginnt, die Sonne geht auf hinter den Wolken.
Ich danke Ihnen für die neue Geschichte
Feuer (Montag, 18 März 2019 22:17)
ich bin das Feuer.
Meine Glut brennt, sie brennt manches, nicht alles, weg.
Menschen haben mich dienbar gemacht,
zum Grillen, Braten, Heizen, Kochen und so manches mehr.
Aber, ich bin das heiße Element; nicht Wasser, nicht Luft, nicht Erde.
Ich, das Feuer.
Kenne keine Moral,
keine Gesetze,
habe kein Mitleid,
wozu?
Ich, das Feuer!
Bin Natur,
bin heiß,
brenne ...,
vernichte,
transzendiere,
Feuer.
Wer bist du?
Material..., nicht heiß.
Feuer ist heiss, heiß, dynamisch.
Feuer, Hitze, Glut, Brand, Chaos, Asche,
Glut, heiß.
Und DU?