· 

"Hüter der Erde" - Begegnungen im grünen El Dorado. Kolumbien Teil 3

Kolumbien – was macht deine Magie aus? Was steckt hinter den Illusionen, den Hoffnungen und Träumen? Was macht für mich den Reichtum dieses Landes aus? Was macht Kolumbien für mich so sehr zum El Dorado? Vor einiger Zeit war ich auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage. Ich war auf der Suche nach dem besonderen Wert Kolumbiens – vor allem aber auch auf der Suche nach dem Eigenwert des Landes, das sich so gerne an den scheinbaren Vorbildern der „entwickelten Länder“ orientiert. Inzwischen glaube ich, dass der ganz besondere Wert Kolumbiens und auch die Magie des Landes in der – zum Großteil noch unberührten – kraftvollen Natur liegt. „El país de todo los verdes“ – das Land aller Grüntöne. Das grüne Gold. Die Natur ist das wahre El Dorado.

Vor einigen Jahren habe ich einen besonderen Ort in Kolumbien entdeckt. La Laguna de Iguaqué. Es ist ein Ort, der die Energie der Erde in sich zu vereinen scheint. Ein schwer zugänglicher Ort und deshalb auch ein Ort, der kaum von Menschen berührt ist. Für die Muisca – die Indigenen um die Anden von Bogotá herum – war dies ein heiliger Ort: die Wiege der Menschheit. Die Lagune liegt auf 3.800 m versteckt zwischen hohen Berggipfeln. Will man dort hin, muss man auf sehr unwegsamen Wegen, eher steilen Geröllfeldern - manchmal auf allen vieren – hinaufsteigen. 1.400 Höhenmeter überwinden. Hier wurde der Legende nach die Menschheit geboren, als die Göttin Bachué von ihrem eigenen Sohn ein Kind zur Welt brachte. Danach verwandelten sich die beiden in Schlangen und leben seither in diesem heiligen See. Deshalb haben die Muisca hier regelmäßig Gold geopfert. Für die Indigenen hatte Gold einen sehr hohen spirituellen, jedoch keinerlei materiellen Wert. Die Legende von El Dorado – der goldene Mann und die ersehnte Stadt aus Gold – stammt tatsächlich aus Kolumbien. Ein Priester der Muisca soll – ersten spanischen Aufzeichnungen zufolge – nackt, mit Goldstaub bedeckt, in einem vergoldeten Schiff in die Mitte des Sees gefahren sein, um dort ins Wasser zu springen und der Sonne das Gold zu opfern. Aufgrund dieser Legende und der europäischen Gier nach Gold sind Tausende von Indigenen zum Opfer gefallen. El Dorado wurde bis heute niemals entdeckt.

 

Ich war an diesem heiligen Ort, doch es brauchte mehrere Anläufe. Der erste Versuch scheiterte aufgrund mangelnder Vorbereitung. Damals fuhren wir unverrichteter Dinge wieder durch den kaum als Straße erkennbaren Weg zurück. Die moosbewachsenen Bäume wirkten wie ein Zauberwald und in der Tat schienen wir an einem verzauberten Ort zu sein, denn etwas weiter bergab trafen wir – wie in einem Märchen – auf einen Troll. An einer verlassenen Straßenkreuzung saßen drei kolumbianische Bauern vor einer kleinen Hütte. Sie trugen erdfarbene Ponchos, die sie gegen die Kälte schützen sollten und Hüte gegen die starke Sonne. In der Hand hielten sie jeweils ein „Poker“ – das lokale Bier. Es war elf Uhr vormittags und wir beschlossen, dort ebenfalls ein Bier zu trinken. Nicht, dass dies unseren Gewohnheiten entsprach – es war eher der Impuls, mit diesen Männern ins Gespräch kommen zu wollen. „Tres poker por favor.“ „Al clima?“ „Si, al clima.“ – hier trinkt man das Bier lauwarm, Raumtemperatur.

Wir plauderten mit den drei Bauern und erfuhren, dass einer von ihnen lange Zeit in Deutschland gelebt hatte. Es war „Troll“. Im Wald und im Spanischen als „El Duende“ auch für das Theater eine wichtige Figur. Das war auch tatsächlich sein Name. Hermann Troll. Wach blickte er uns aus seinen lebendigen Augen an und schnell stellten wir fest, dass er und ich eine gemeinsame Bekannte in Cartagena hatten – ganz im Norden von Kolumbien. Impulsiv, wie es seiner Art und seinem Blick entsprach, rief er sie sofort an und holte mich ans Telefon. Unglaublich. Eigentlich. Doch für Hermann kein Wunder – schließlich sei dieser Ort magisch, erklärte er uns. Das Gespräch ging weiter. Wir erzählten ihm, dass wir für unser Theaterprojekt auf der Suche nach dem „altem Wissen“ über die Verbindung von Mensch und Natur waren.

 

Der kleine Mann mit den lebendigen Augen lachte uns verschmitzt an und verriet uns, dass er einen kleinen magischen Wald habe. Er bedeutete uns, ihm zu folgen und fuhr auf seinem Quad vorneweg. Dann führte er uns liebevoll durch seinen Zauberwald, stellte uns seine Bäume vor und erklärte, dass es in Kolumbien viele importierte Baumsorten gäbe. So zum Beispiel der Eukalyptusbaum, der das gesamte Wasser aus dem Boden saugt und damit den einheimischen Bäumen die Lebensgrundlage entzieht. Deshalb hat Troll ihn aus seinem Wald entfernt und versucht nun, nach alten Prinzipien einheimische Sorten anzupflanzen. Er möchte jungen Kolumbianern dieses alte Wissen weitergeben. Ein hochpolitisches Thema in Kolumbien, denn wenige Jahre zuvor hatten Streiks und Straßenkämpfe wochenlang das Land lahmgelegt. Es war ein Aufstand der Bauern. Gegen das Freihandelsabkommen zwischen Kolumbien und den USA, nach dem die kolumbianischen Bauern ihre alten indigenen Sorten nicht mehr anbauen, sondern nur noch ‚zertifizierte Samen’ von registrierten Konzernen wie Monsanto verwenden dürfen. Die weltweiten Machtstrukturen nehmen keine Rücksicht auf die Umwelt und schon gar nicht auf Kleinbauern. Ich war damals in Bogotá, als der Streik seinen Höhepunkt erreichte, saß mitten im Zentrum der Stadt in meinem kleinen Mittagsrestaurant. Im Fernsehen sah ich die Bilder von den erbitterten Straßenschlachten nur wenige Häuser weiter. Das Militär wollte die Bauern und Studenten mit Wasserwerfen zur Vernunft zwingen und die Gegenseite wehrte sich mit Steinen. Auch das ist Kolumbien. Hier jedoch – in Trolls kleinem Reich – dürfen alte südamerikanische Sorten beschützt und von ihm behütet wachsen.

Im Umkreis der heiligen Lagune von Iguaqué wirkt auch eine kolumbianische Theatermacherin, die sich der Verbindung von Theater und Natur verschrieben hat. Eine Intellektuelle, die voller Wut mit den Mitteln des Theaters gegen die postkolonialen Strukturen kämpft. Sie ist auf der Suche nach einer eigenen kolumbianischen Identität – jenseits von westlichen Herrschaftszentren –, die sie künstlerisch ausdrücken möchte. Auch wenn mir ihre Arbeit künstlerisch wenig gefallen hat, so finde ich ihren Ansatz dennoch sehr wertvoll. Sie forscht auf den Spuren der eigenen Geschichte – belebt die Tradition der Muisca wieder. Sie möchte deren Verbundenheit mit der Erde als autochthones Selbstverständnis fortschreiben. Das Wissen der indigenen Urvölker als Wert aufrechterhalten – quasi als Erbin der Muisca. Sie möchte das eigene Selbstbewusstsein finden und stärken, das die Kolumbianer von den tief verankerten postkolonialen Strukturen befreien könnte.

 

Mit dieser Theatermacherin waren wir verabredet. Sie lud uns ein, mit ihr und dem Ensemble loszufahren. Wohin? Das wussten wir damals selbst nicht. Irgendwohin. Wir fuhren mit. In einem kleinen Bus. Ungefähr drei Stunden durch engste Andenstraßen. In das kleinste Dorf, das ich je gesehen habe. Dort besuchten wir eine Dorfschule, in der die Kinder aus all den umliegenden – das heißt kilometerweit entfernten – Dörfern in einer Klasse bei einem einzigen jungen und sehr engagierten Lehrer in die Schule gingen. Mit diesen Kindern würden wir nun innerhalb von wenigen Stunden ein kleines Theaterstück erarbeiten. Nach dem Prinzip der Theatermacherin – in enger Verbindung mit Mutter Erde.

Gemeinsam wanderten wir mit den Kindern, ihrem Lehrer, der Theaterfrau und ihren Schauspielern zum Bach hinunter. Dort angekommen erinnerte sie die Kinder daran, dass sie alle Nachfahren der Muisca seien und damit die Erde, das Wasser und die Sonne für sie heilig sind. Die Steine im Wasser seien „Funchas“. Das sind die Großmütter und Ur-ur-ur-Großmütter der Kinder. Diese würden mit uns sprechen und, wenn wir genau zuhörten, könnten wir sie auch verstehen. Also lauschten wir alle andächtig den Funchas. Die Kinder verrieten uns, dass die Funchas sehr traurig seien, dass wir die Umwelt so zerstörten. Sie baten uns, das Wasser, die Erde und unsere Umwelt zu reinigen und sie zu schützen. Das, was die Kinder uns mitteilten, war spontan. Kein angelerntes Wissen. Es ließ uns innehalten. Vielleicht sollten wir öfter unseren Kindern oder den Steinen im Wasser zuhören – vielleicht haben sie manchmal einen besseren Zugang zur Weisheit als wir. In Deutschland habe ich übrigens ebenfalls Funchas gefunden: Auch sie geben uns Antworten, wenn wir sie darum bitten.

 

In Kolumbien gibt es noch die „Hüter der Erde". Und ich durfte einen von ihnen kennenlernen: Die Begegnung mit Sebastián war ein großes Geschenk. Sebastián kommt aus einem indigenen Stamm und ist Vorsitzender der Vereinigung aller politisch aktiven indigenen Stämme Kolumbiens. Ein Heiler. Aufgewachsen im Amazonas. Spanisch ist für ihn eine Fremdsprache. Von den Ältesten seines Stammes wurde er dazu bestimmt, sich als Delegierter politisch für den Stamm einzusetzen. Freiwillig hätte er den geliebten Amazonas nicht gegen das Leben in der Millionen-Stadt Bogotá eingetauscht. Heute pendelt er zwischen seinem Stamm und der Hauptstadt. Er setzt sich dafür ein, dass seinem Volk nicht die Lebensgrundlage – die Natur – genommen wird. Dafür, dass der „Fortschritt“ in Maßen vorangeht und nicht allzu schnell Bäume gefällt und Straßen gebaut werden. Die Indigenen leben tagtäglich im Einklang mit Mutter Erde. Bei ihnen findet man das noch existierende Wissen über die enge Verbindung von Mensch und Natur. Etwas, was für uns heute in der „alten Welt“ von hohem Wert ist. Oder sein könnte.

 

Sie brauchen die Natur als Lebensgrundlage. Materiell und spirituell. Die Stammesältesten bekommen nämlich von den Bäumen Handlungsanweisungen für ihren Stamm. Wenn die Bäume nicht mehr sind, fehlt die spirituelle Führung durch die Bäume. Dann sitzen die Weisen im Wald und können nichts mehr hören. Und auch ihr Volk nicht mehr leiten. Das Erdöl ist für Sebastián und seinen Stamm das Blut der Erde. Und wie beim Menschen, so könne man auch der Erde Blut entnehmen, jedoch nicht unendlich. Sonst verblutet die Erde. Wie der Mensch. Ich höre diesem Mann zu. Er spricht in Bildern, die andere Assoziationen und ein völlig anderes Weltbild verraten. Und ich denke mir, wie viel wir von diesen Menschen lernen könnten. Wenn wir Möglichkeit schaffen, ihnen zuhören zu können!

 

Da verrät mir Sebastián seinen Traum: Die Konferenz der Weisen. Er möchte die Stammesältesten aller indigenen Völker von ganz Nord- und Südamerika zusammenbringen. Thema der Konferenz ist die Zukunft des Planeten Erde und uns Menschen. Gemeinsam sollen sich die Weisen darüber austauchen, was die Bäume ihnen dazu mitgeteilt haben. Das Ergebnis soll schriftlich zusammengefasst und als Empfehlung der Weltklima-Konferenz übergeben werden. Was für eine Idee! Sie geistert seither immer wieder in meinem Kopf herum – manchmal fühlt es sich fast wie ein Auftrag an. Kolumbien – wie viele andere Länder auch – hat der Welt etwas zu sagen. Wir sollten einen Raum schaffen, der Reden und Zuhören ermöglicht. Jenseits der gewohnten Perspektiven, Klischees und politischen Herrschaftssysteme. In Europa sind wir hier bereits offener für „alternative“ Sichtweisen. Glaube ich. Vielleicht sollten wir Sebastián einladen und ihm zuhören. Es wäre eine Bereicherung.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0