© Colegio del Cuerpo
Vor einigen Jahren begegnete mir in Kolumbien eine besondere Fotografie. Ja, sie begegnete mir. Sprach mich an und forderte mich auf, ihr nachzugehen. Und führte mich zu einem Menschen, der etwas versinnbildlicht, an das ich glaube: Kunst als Weg des Friedens. Als wichtiges Element des Friedensprozesses in Kolumbien.
Das Bild begegnete mir in einer großartigen Ausstellung des kolumbianischen Foto-Künstlers Ruven Afanador in dessen Geburtstadt Bucaramanga. „Yo seré tu espejo“ – ich werde dein Spiegel sein – so der Titel der Ausstellung. Afanador, der wie viele kolumbianische Künstler im Ausland lebt, porträtiert in seinen Fotografien sehr viele kolumbianische und internationale Künstler. Auf eine Weise, die mich an den magischen Realismus und somit an das Selbstverständnis der Kolumbianer erinnert. Er offenbart in seinen Bildern das, was man sonst nur mit viel Fantasie für das „Unsichtbare“ sehen kann. Eine Frau beispielsweise trägt ein gemaltes Paar zusätzliche Augen auf der Stirn. Sie sieht doppelt, sie sieht anderes. Sie hat den eigenen und den anderen Blick verinnerlicht. Der magische Realismus umschließt immer mehr als das, was wir – zumindest oft in Deutschland – als Realität bezeichnen.
Die Fotografie, von der ich erzählen möchte, zeigt einen Tänzer in einer Bergmassiv-Landschaft. Mit der ganzen Kraft seines gesamten Körpers scheint er ein archaisch anmutendes axtähnliches Instrument vor sich in den Boden zu rammen. Und sich so mit der Erde zu verbinden. Das Bild faszinierte mich zutiefst – der Ausdruck des Kreatürlichen unseres Menschseins in all seiner Kraft. Es schien mir beseelt zu sein. Ich notierte mir den Namen, um darüber später zu recherchieren. Und das, was ich dann – zurück in Deutschland – über diesen Menschen auf dem Bild herausfand, übertraf meine Erwartungen: Álvaro Restrepo hatte als zeitgenössischer kolumbianischer Tänzer in New York seine Karriere gemacht. Zunächst bei Martha Graham, später dann weltweit als Solotänzer. Nach seiner Tanz-Karriere ging er zurück nach Kolumbien, um in Cartagena an der Karibikküste das „Colegio del Cuerpo“ zu gründen. Ziel seiner „Schule des Körpers“ ist es seither, durch Tanz und Bewegung die ärmsten Kinder zu formen. Es geht ihm darum, den – meist afroamerikanischen – Kindern durch Bewegung den Respekt vor dem eigenen und fremden Körper zu vermitteln. Sie sollen durch Tanz und Kultur ein Selbstbewusstsein erlangen, das sie stark genug macht, um sich aus tief verankerten Macht-Strukturen zu befreien. Bald schloss sich ihm die französische Choreografin Marie France Delieuvin an und gemeinsam arbeiten sie seither unermüdlich an ihrer Vision. Die Kinder aus den ärmsten Vierteln von Cartagena kamen um die ganze Welt: Sie hatten die Gelegenheit überall aufzutreten – in Europa, Südafrika und Asien. Aus den Kindern wurden Erwachsene und aus der Schule entwuchs eine Company. Die Arbeit hat sich vervielfältigt, wie ein Baum, der sich immer weiter verästelt.
© Ruven Afanador: "Yo seré tu espejo"
In meiner Begeisterung schrieb ich damals Álvaro Restrepo an. Und er reagierte sofort. Es begann ein reger Austausch über Kunst und Kultur in Deutschland und Kolumbien. Die Neugier aufeinander wuchs und als Álvaro mich bat, das „Colegio del Cuerpo" zu besuchen, gab es zwei Möglichkeiten: Entweder in fünf Tagen oder in fünf Monaten. Wir fanden, dass jetzt der richtige Zeitpunkt sei und so reiste ich kurz entschlossen fünf Tage später – ein Monat nach dem Besuch der Ausstellung – schon wieder nach Kolumbien, um das Colegio del Cuerpo kennenzulernen. Selten agierte ich so aus dem Bauch heraus wie in jenem Moment. Vollkommen im Kolumbien-Modus – nicht viel denken, einfach handeln.
Die Verhältnisse, in denen das Colegio del Cuerpo in Cartagena arbeitete und tagtäglich um sein Überleben kämpfte, waren chaotisch. Unsicher. Damals waren sie gerade in die Räume einer Universität umgezogen – Álvaro war voller Tatendrang. Und Hoffnung. Zudem versprach er sich viel davon, dass er mit der Gattin des damals neu gewählten Präsidenten – dem späteren Friedensnobelpreisträger – Juan Manuel Santos zur Schule gegangen war. Er sollte Recht behalten. Sie kam wenige Tage später zur Eröffnungsfeier des neuen Tanzstudios. Und der Präsident selbst würde sogar einmal als Performer in einem Stück auftreten.
Das Büro des Colegio del Cuerpo befand sich in einem schmalen Turm – unten voller kleiner Keramik-Köpfe, die von Álvaro zu einer liebevollen Installation vereinigt waren. Nach oben schien der Turm immer höher und weiter zu werden. Ganz oben schließlich saßen wir und unterhielten uns. Darüber, dass für ihn die Kinder mit ihrem ungenutzten Talent wie rohes Material sind, das sich in einem alchimistischen Prozess zu wertvollen Goldstücken entfaltet. Álvaro hatte sich mit seiner Vision ganz bewusst an der kolumbianischen Karibik-Küste niedergelassen, denn hier sah er das Bewegungs-Potential der hauptsächlich afroamerikanischen Bevölkerung. Tanz gehört zum Alltag. Er erzählte von seinem Traum, der Gründung eines Kulturzentrums, das vom Körper ausgehend einen Raum für Kreativität und künstlerisches Schaffen bietet. Und von seiner Vision, mit dem Tanz in Kolumbien ähnliches zu erreichen wie das, was Venezuela in der Musik erreicht hat: in jedem kleinsten Winkel des Landes soll Tanz gelehrt werden. Und die Voraussetzungen sind gegeben, denn Tanz ist in Kolumbien überall präsent. Alle tanzen – von den kleinsten Kindern bis zu den ältesten Greisen.
© John Cárdenas/ Colegio del Cuerpo
Künstlerisch bestechen die Choreografien Álvaro Restrepos durch einen großartigen Sinn für Dramaturgie und Poesie. Dabei erzählen seine Kreationen immer auch von der Aktualität und den Wunden seines Landes. Außergewöhnlich ist dabei ein fast ritueller Zugang. Er gibt den Traumata seines Landes im Tanz einen Raum, indem er sie benennt, durchlebt und in einem zeremoniellen Kunstwerk verarbeitet. In abstrahierter poetischer Form. Das Ergebnis ist zutiefst berührend. Nicht anklagend, nicht moralisch, sondern ergreifend schön. Er zeigt die menschlichen Zerrissenheiten und Widersprüche in Form von Tanz. Verschafft ein tiefes Verständnis für die Wunden und zugleich einen Ort für Vergebung und Hoffnung.
Eines seiner großen Stücke ist InXilio, in dem er sich mit dem Schicksal der Binnenflüchtlinge beschäftigt hat. Kolumbien ist das Land mit der größten Anzahl an Binnenflüchtlingen – Menschen, die innerhalb des eigenen Landes vor der Gewalt auf dem Land in die Armut der Städte fliehen mussten. Mit InXilio schuf er ein Werk, in dem diese traumatisierten Menschen zur „Sinfonie der Klagelieder“ von Hénryk Górecki in einer Art Prozession auftraten. Eingerahmt durch die Tänzer seiner Company fanden sie hier einen Raum sich zu zeigen. Wahrgenommen zu werden. InXilio verarbeitet rituelle Formen auf künstlerische Weise. So sind Prozessionen, autobiographische Erzählungen, ein „Kreis der Weisen“, Gesang und Projektionen miteinander verwoben. An einer dieser Vorstellungen nahm der damalige Präsident Juan Manuel Santos als Performer teil. Er zog – wie alle in eine rote Decke gehüllt – mit den Flüchtlingen in eine riesige Halle, in der das Stück aufgeführt wurde. Eine große Geste. Auch für die Kunst als zentrales Element des Friedensprozesses.
Seitdem in Kolumbien offiziell „Frieden herrscht“, stellt sich nämlich die Frage nach dem, was Frieden eigentlich bedeutet, mit ganz neuer Brisanz. Es geht nun um die konkrete Umsetzung. Wie kann man ein traumatisiertes Land tatsächlich befrieden? Angesichts der großen sozialen Schere ist dies eine Frage mit weitreichender Konsequenz. Tatsächlich Frieden zu schaffen ist nun politische und gesellschaftliche Realität. Amnestie, politische Integration der ehemaligen Guerilleros, Vergebung – das sind die Schlagworte. An die manche Kolumbianer glauben und vor denen viele Angst haben. Im August 2018 hat die Bevölkerung wieder einen ultrarechtskonservativen Präsidenten gewählt. Vermutlich aus Angst. Statt Vergebung doch lieber ein bisschen Rache oder – politisch korrekter – Strafe für die ehemaligen Guerilleros. Eine nicht enden wollende Spirale. An deren Ursprung die Missachtung der Würde des Menschen steht.
Ich glaube, dass Kunst und Kultur ein Weg hin zu Frieden ist. Denn Kunst bietet Raum für alles Menschliche – auch Wunden und Ängste, Gewalt und Hässlichkeit. Kunst lässt Fragen zu und darf offen sein. Lässt uns Menschen Menschen sein – mit allen Widersprüchen, Zweifeln und Fragen. Álvaro Restrepo setzt sich seit über zwanzig Jahren zielstrebig mit seiner Kunst – dem Tanz – für Frieden ein: Tanz als Weg zu Würde und Selbstvertrauen, zu Gleichheit und Frieden. Zur Durchbrechung der postkolonialen Herrschaftsstrukturen, welche Gewalt, Armut und Ungerechtigkeit nach sich ziehen. Tanz als sozialer, politischer, aber vor allem auch als künstlerischer Akt.
Seit meiner ersten Begegnung mit Álvaro Restrepo vor über sechs Jahren habe ich die Company immer wieder besucht und ihre künstlerische Entwicklung beobachtet. Sie sind gewachsen, auch erwachsen geworden. Gerade erst waren sie zum wiederholten Male als „Artist in Residence“ in Robert Wilsons „The Watermill Center“. Sie bereisen weiterhin die ganze Welt – inzwischen als offizielle Kulturbotschafter Kolumbiens – und sind regelmäßig auf den Bühnen von London (Sadler’s Wells), New York, Japan und Südafrika zu sehen.
Álvaro Restrepo hat in all den Jahren nie die Hoffnung verloren. Er ist für mich ein Beispiel dafür, dass Kunst ein Weg des Friedens sein kann. Er glaubt an die gestaltende Kraft von Kultur und setzt sich seit Jahren mit seiner Kunst für den Friedensprozess in Kolumbien ein. Er zeigt durch seine Arbeit, dass Kunst einen geschützten Raum bilden kann, in dem Wunden aus Gewalt, Armut und Ungerechtigkeit, tief verankerte Herrschaftsstrukturen thematisiert und benannt werden können. Ohne Vorwurf. Und so vielleicht die einzige Möglichkeit zur Heilung bietet. Ein Weg zu Vergebung und Frieden.
Ich wünsche mir, die Company einmal in Deutschland tanzen zu sehen.
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