Die Kolumbien-Textreihe: Der Liebesgeschichte erster Teil
Kolumbien hat mich und mein Leben sehr geprägt. Darüber möchte ich schreiben, auch wenn es angesicht der vielen Erlebnisse und Begegnungen schwer fällt, nur manches davon herauszugreifen. Deshalb wird es eine Kolumbien-Textreihe geben. Jeder Text beleuchtet eine andere Facette dieser Liebesgeschichte.
Wenn Liebe erwachsen wird - Kolumbien Teil 1
Oft, wenn ich meine Augen schließe, gehe ich durch die Straßen von Bogotá. Obwohl die Zehn-Millionen-Stadt unter Lärm und Schmutz leidet, spüre ich, wie sich mein Herz weitet und ich den Puls und die Energie dieser Stadt einatme. Meine Liebe zu Kolumbien begann vor genau achtzehn Jahren, als ich im Jahr 2000 das erste Mal in dieses Land kam. Nun ist die Liebe erwachsen geworden. Zeit für ein Résumée.
Damals war ich Anfang zwanzig und es war Liebe auf den ersten Blick, die ich für dieses herzliche, grüne, mächtige Land zwischen Amazonas, den Anden und zwei Weltmeeren empfand. Ein riesiges Land, das so viele Gegensätze in sich vereint, wie sie überhaupt nur irgendwie denkbar sind. Es wurde für mich zu einem Ort der Sehnsucht – immer und immer wieder zog es mich mit wilder Besessenheit dahin. Lange bestimmte diese Sehnsucht viele Entscheidungen in meinem Leben – es war eine leidenschaftliche Liebe. Und lange Zeit fand ich es schwierig, diese Sehnsucht einzuordnen und damit zu leben. Heute denke ich, dass Sehnsüchte etwas über uns Menschen ausdrücken und vielleicht etwas über uns erzählen. Und ich glaube, es lohnt sich, diesen Sehnsüchten zuzuhören. Ihnen Raum zu geben. Die Liebe zu Kolumbien hat sich gewandelt – sie ist auch durch Enttäuschungen gegangen. Die Liebe ist erwachsen geworden. Erwachsen, aber nicht weniger. Anders.
Oft wurde ich gefragt, was genau ich so sehr an Kolumbien liebe. Die Antwort darauf ist im Grunde einfach: Mein Herz geht auf. Ganz weit. Sobald ich in Bogotá aus dem Flugzeug steige, die Luft rieche und die Berge rund um die Stadt erblicke. Ich atme tief ein und aus. Und fühle mich befreit. Angekommen. Mein Herz ist offen, meine Sinne sind empfänglich, alles wird leicht. Kolumbien öffnet sich mir weit und umarmt mich. Ich bin glücklich. Ich liebe die Menschen, ihre Herzlichkeit, die gewaltigen Berge, das Grün in all seiner Vielfalt, die Natur, die vielen unbekannten Früchte, die Präsenz aller Gegensätze, die unser Leben ausmachen.
Die Liebe zu Kolumbien hat eine lange Vorgeschichte. Sie reicht weit in meine Kindheit zurück und ist eng verknüpft mit meiner Liebe zu Büchern. Als große Leseratte verschlang ich ein Buch nach dem anderen und aus dem, was ich las, gestaltete sich meine Welt. Eines dieser Bücher, die sich mir tief einprägten, war „Nesthäckchen“ von Else Ury. In zehn Bänden erzählt die Schriftstellerin das Leben eines Mädchens, das Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in einer großbürgerlichen Berliner Familie aufwächst – bis zu ihrem Tod als alte Frau. Das Leben ihrer Tochter hat mich dabei am meisten beeindruckt. Diese heiratete einen Mann aus Südamerika und zog mit ihm dorthin. Alles, was ich über diese fremde Welt las, faszinierte mich. Diese frühe Sehnsucht nach Südamerika wuchs mit jedem weiteren Buch, das von Kaffee- und Bananenplantagen, gewaltigen Bergen und weiten Landschaften erzählte. In meiner Vorstellung entstand eine Welt, die eine wunderbare Mischung aus Realität und Magie versprühte. Der Same war gepflanzt und ging einige Jahre später in Kolumbien auf.
Während meiner ersten Reise im Jahr 2000 verliebte ich mich mit ganzem Herzen. In Kolumbien. Damals war Kolumbien ein Land, das kurz nach der Ermordung Pablo Escobars immer noch in den Wirren des jahrzehntelangen Bürgerkriegs steckte. Die Gründe – ursprünglich politisch-ideologisch – spielten inzwischen längst keine Rolle mehr. Es war ein anderes Land als heute. Entführungen und Bombenanschläge gehörten an die Tagesordnung. Über Land reisen war nur auf wenigen Strecken möglich – ansonsten musste man von Stadt zu Stadt fliegen. Doch ich fühlte mich dort wohl – beschützt von der Familie meines besten Freundes, einem Kolumbianer. Tauchte in den kolumbianischen Alltag ein. Lernte, dass die hohe Präsenz von mit Maschinengewehren bewaffnetem Militär für die Kolumbianer ein Zeichen für Sicherheit ist. Es wurde normal, dass bei jedem Supermarkt-Besuch das Auto mit Spiegeln nach möglichen Bomben abgesucht wird. Täglich schauten wir um zwölf Uhr die Nachrichten, die von den Entführungen durch die Mafia und den Kämpfen zwischen Guerilla-Gruppen, Militär und Paramilitär berichteten. Gleichzeitig übten die Lebensfreude, Herzlichkeit und die gewaltige Kraft der Anden eine unglaubliche Faszination auf mich aus. Trotz oder vielleicht auch wegen der ständigen Hintergrund-Kulisse aus Gewalt und Angst.
Kolumbien war für mich auch eine sehr persönliche Erfahrung: Die erste Liebe, das Entdecken von Spiritualität, der Macht der Natur und des eigenen Lebensweges. Mit der ersten Reise nach Kolumbien setzte ich mich gegen die Ängste meiner Eltern durch. Und noch wichtiger: Gegen meine eigenen Ängste. So erinnere ich mich noch heute genau an das Gefühl, das ich bei der Landung empfand, als ich das erste Mal die Savanne von Bogotá mit ihren endlosen Blumenplantagen erblickte. Ich spüre noch immer diese Mischung aus Angst, Stolz und Freude. Eine unglaubliche Freude darüber, dass ich tatsächlich in dieses Land kam, von dem ich so lange geträumt hatte. Eine ganz tiefe Freude darüber, meinen eigenen Weg zu gehen. Dafür auch meine eigene Angst zu überwinden.
Während dieser ersten Reise verschlang ich die Bücher von Gabriel García Márquez. Ich glaube, ich hätte keinen besseren Reiseführer finden können als diesen kolumbianischen Schriftsteller. Gabo, wie er von den Kolumbianern liebevoll genannt wird. Auch ihm und seinen bunten, lebendigen Welten verdanke ich meine große Liebe für das Land. Wer Kolumbien wirklich verstehen möchte, muss in die Welt des magischen Realismus eintauchen. Denn das ist Kolumbien. Eine leidenschaftliche Mischung aus Gewalt und Hoffnung, Verzweiflung und Lebensfreude. Naturgewalt. Die Erde spricht. Der Mensch besessen. Gewalt ist permanent spürbar. Die Wunden sind kaum verheilt. Menschen führen generationenlang Krieg und wissen nicht mehr, wofür sie eigentlich kämpfen. Sie lieben leidenschaftlich und leiden genauso heftig. Die Toten leben weiter, Geheimnisse sind in den Mauern vergraben. Das ist Kolumbien. Magischer Realismus. Magie ist Realität. Genau wie in der Literatur von Gabriel García Márquez.
Seit meinem ersten Besuch im Jahr 2000 war ich inzwischen über zehnmal dort – oft sehr lange, manchmal fast die Hälfte eines Jahres. Ich habe mir nach und nach das Land erschlossen, bin alleine – damals noch als einzige Touristin weit und breit – in Bussen durch das Land gereist, bin immer tiefer eingetaucht und habe mich immer sicherer bewegt. Natürlich sind mir auch weniger schöne Dinge passiert: zweimal wurde ich bestohlen, einmal davon überfallen. Jedes Mal war es Glück im Unglück. Immer öfter war ich auch beruflich dort: In Bogotá inszenierte ich die Rossini-Oper „Il Signor Bruschino“ und an anderen Orten, wie beispielsweise in Bucaramanga, entwickelte und realisierte ich Tanztheaterprojekte. So konnte ich das Land noch besser kennenlernen. Und ich habe die rasanten Veränderungen beobachtet. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, dass das Land mir einerseits tief vertraut und doch jedes Mal etwas verändert ist. Das Land ist „sicherer“ geworden. Heute herrscht offiziell Frieden.
Ich habe den Weg dorthin über achtzehn Jahre beobachtet, habe erlebt, wie Präsident Uribe mit Militärgewalt für Sicherheit auf den Straßen sorgte. Und habe verfolgt, wie sein Nachfolger – Präsident Santos – einen diplomatischen Weg einschlug und den langersehnten Friedensvertrag aushandelte. Amnestie für die ehemaligen Guerrilleros, aber auch versteckte Steuererhöhungen und keinerlei Verbesserung für die Bauern. Der erste Vertragsentwurf wurde von den Kolumbianern abgelehnt. Am Tag meines 38. Geburtstags. Ein Schock. Kolumbien hat viele Wunden. Es ist das Land mit der höchsten Anzahl an Binnenflüchtlingen. Unzählige Menschen haben Gewalt erfahren – vor allem in den ländlichen Regionen, wo Bauern in Guerilla-Uniformen gesteckt und für Kopfgeld von den Paramilitärs ermordet wurden. „Los falsos positivos“. Mangelnde Bildung und vor allem tief verankerte postkoloniale Strukturen. Arm bleibt arm und reich bleibt reich.
Heute erscheint mir der Friedensvertrag in vielfacher Hinsicht leider wie eine Marketing-Mogel-Verpackung. Ja, es kommen mehr Touristen. Sie klappern nun die außergewöhnliche Schönheit Kolumbiens ab. Es sind inzwischen solche Massen, dass die Indigenen im Norden des Landes das Recht erkämpft haben, ihr Gebiet – den Tayrona-Nationalpark – phasenweise für Touristen zu schließen. Der Kogi-Stamm versteht sich nämlich als Hüter der Sierra Nevada. Die vielen Touristen verunreinigen die Energie der Erde. Deshalb darf phasenweise niemand dorthin. Damit die Kogi den Ort wieder spirituell reinigen können. Ich glaube, wir können ihnen dankbar sein. Doch nicht nur Touristen kommen nach Kolumbien, sondern auch die lange ersehnten großen multinationalen Firmen. Sie holen die vielen Bodenschätze – Erdöl, Gold und Smaragd – aus dem Boden. Man nennt das „Entwicklung“ oder „Fortschritt“. Oftmals immerhin naturschonender als die einheimischen illegalen Abbau-Betriebe. Der Gewinn bleibt jedoch nicht im Land, sondern geht wieder einmal in die reichen und mächtigen Länder. Weltweite postkoloniale Strukturen bleiben bestehen. Wann hört dieser Kreislauf endlich auf?
Jahrelang habe ich diese ungerechten Strukturen in Kolumbien nicht gesehen. Oder nicht sehen wollen. Es schien einfach die Realität des Landes zu sein. Die Reichen „helfen“ den Armen, indem sie diese bei sich anstellen. Die Armen kümmern sich um den Garten, die Kinder, kochen und putzen. Sind dankbar. Weil sie keine anderen Chancen haben. Weil sie keine bessere Bildung bekommen und gar nicht sehen, wie ungerecht diese Strukturen sind. Inzwischen macht mich diese Ungleichheit wütend. Die Reichen und die Armen. Es sind keine gottgegebenen Strukturen, sondern von Menschen gemachte. Generationenlang weitergegebenes Denken. Demütiges Unterwerfen auf der einen Seite, großzügiges Helfen auf der anderen. Wie kann man so etwas aufbrechen? Ich glaube, das ist die Hauptfrage für einen erfolgreichen Friedensprozess. Und ich glaube, dafür muss man hinter die Hoffnungen und Illusionen blicken. Es bedarf eines erwachsenen Blickes, der auch die Wunden und Verletzungen des Landes zulässt. Ihnen Raum gibt und zuhört.
Meine Sehnsucht nach Kolumbien hat jahrelang mein Leben bestimmt. Ich konnte nicht anders, als immer wieder dorthin zu reisen – sei es für Projekte oder einfach nur, um Kraft zu tanken. Immer wieder habe ich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, dorthin auszuwandern. Lange habe ich gebraucht, um ansatzweise zu verstehen, was das alles für mich bedeutet. Ich glaube heute, dass Kolumbien eine Art Schlüssel zu mir ist. Ein Symbol. Wie eine Art Spiegel meiner selbst. Es geht auch um Verantwortung. Für das Land und den eigenen Lebensweg. Heute ist meine Liebe erwachsen geworden. Mein Blick auf das Land hat sich verändert. Er ist ent-täuscht worden, sieht nun klarer. Das ist gut, wenn man gestalten und Verantwortung übernehmen möchte. Ich weiß, dass mich Kolumbien immer wieder rufen wird. Und dass ich diesem Ruf immer wieder folgen werde. Das Land wird mich immer wieder umarmen. Und ich werde mich umarmen lassen.
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Kirsten (Freitag, 12 Oktober 2018 15:34)
Du sprichst mir aus dem Herzen. Meine Liebe begann 1994......
Ernst Lipps (Samstag, 19 Januar 2019 04:00)
Liebe Leserin
"Arm bleibt arm und reich bleibt reich."
... wenn Liebe erwachsen wird,
alles begann mit einem Buch und dessen Protagonistin - was ich über diese fremde Welt las, faszinierte mich ...
Die innere Reise des Mädchens in das Land ihres Lebens endet als alte Frau in Südamerika, in Kolumbien. Das "Nesthäckchen" hat gewaltige Schritte hinter sich gelassen. Sie ist ihren inneren Bildern, Sehnsüchten und ihrer Liebe gefolgt. Eine Lebensreise. Nicht jede macht so eine Reise von innen nach aussen, kosmopolitisch und leidenschaftlich. Viele bleiben. Jene, die ihrer Abenteuerlust, ihrer Neugier, ihrem Drang nach dem Fremden folgen, sie geben ihrem Leben eine eigene, unverwechselbare Richtung und haben was zu erzählen.
Storytelling, man erzählt eine Geschichte, erfunden, halbbiographisch, realistisch, futuristisch, je nachdem. Und immer dreht sich alles um die Liebe. Der Ort der Handlung ist die Erde, manchmal auch der Mond, die Venus oder der Mars. Mord und Todschlag gehören dazu, der Mensch hat kannibalische Wurzeln, auch und gerade dann, wenn er auf fein macht. Das ganze Leben ist kannibalisch. Und nichts ist raffinierter als eine Bühne, auf der die Liebe und das Leid kunstvoll inszeniert und zelebriert wird: Grand Opera.
Die Kleine wird groß, verliebt sich viele Male, wird alt und stirbt als Weise. Sie will sich nicht abfinden mit dem uralten Pharaonengesetz, wer hat, dem wird gegeben, wer nicht hat, dem wird genommen. Sie bäumt sich auf, bricht aus, verteidigt ihre frisch erblühte Autonomie und liebt mit allem was sie hat. Sie liebt das Leben, sie liebt das weite Land und den Mann. Und - sie ist eine tolle Frau, was für eine. Sie hat Intellekt, Fantasie, Gefühl, Temperament, Feuer, Tanz und Musik in sich, sie hat die Poesie im Blut; kurz: sie ist die Leserin. Ihre Reise hat früh begonnen, klein angefangen, aber sie wird große Kreise ziehen und dem Regenbogen, dem magischen Realismus folgen. Und in diesen beiden Begriffen stecken Magie und Realität. Ihre Liebe will sich über alles erheben. Sie begehrt auf, sie schweigt nicht, sie schreibt und Glaubt an die Macht der Liebe und der Kunst.
Wenn da nicht die Natur des Menschen wäre, des Kannibalen.
In der Dominanz der Medien überwiegt die böse Botschaft, davon leben die.Das Gute gehört in den Bereich der Mythen und Märchen und der Idealisten. Dabei, und daran glaube ich, will der Mensch das Gute. Er hat eine fast kitschige Veranlagung dazu. Warum auch nicht!? Die Erzählerin hat sich und alle ihre Grenzen überwunden, sie ist sich treu geblieben in ihrem Frau - Sein, wie die Frieda Kahlo, die mit den beeindruckenden Augenbrauen. Es muss wohl die irrationale Leidenschaft sein, um eine weite Reise in der äusseren Welt im Inneren enden zu lassen, am Ort der tiefen Sehnsucht, im Paradies.