Prolog aus aktuellem Anlass
Das Thema Wald ist momentan aufgrund der Ereignisse um den Hambacher Forst sehr aktuell. Ich habe diesen Text unabhängig davon diesen Sommer im Schwarzwald geschrieben. Weil ich von meiner unvergesslichen Begegnung mit dem Urwald erzählen wollte. Nun frage ich mich angesichts der Aktualität aber schon, was mit dem Hambacher Forst passiert wäre, wenn die Naturschützer statt einer Kampf-Strategie eine radikal gewaltfreie Kommunikation gewählt hätten. Was wäre mit dem Wald passiert, wenn sie sich in all diesen Jahren statt auf den Kampf vorzubereiten ausschließlich darauf konzentriert hätten, die Schönheit und die Bedeutung des Waldes zu vermitteln. Vielleicht wäre der Hambacher Forst dann heute kein Ort des Kampfes. Ich glaube an die positive Kraft der Verwandlung. Je länger ich lebe, umso mehr sogar.
Šumava - Der Urwald in mir
Vor einigen Jahren kam ich das erste Mal in den Nationalpark Šumava. Der klangvolle tschechische Name „Schumava“ steht für das, was auf deutsch „Böhmerwald“ heißt. Ein riesiges Waldgebiet in Tschechien – im Herzen Europas. Gemeinsam mit dem Bayerischen Wald bildet der Böhmerwald – getrennt nur durch die deutsch-tschechische Grenze – das größte zusammenhängende Waldgebiet Mitteleuropas. Die Lunge Europas, wenn man so will. Mit einer unglaublichen Vielfalt an Flora und Fauna. Die Natur konnte sich hier während der Zeit des Eisernen Vorhangs ungestört entfalten, war doch das Grenzgebiet sozusagen Niemandsland, das kaum ein Mensch betrat. Ein Glück für den Wald. Und für den Menschen, der sich heute dorthin verirrt. Es sind nur wenige in diesem verlassenen Stückchen Erde unterwegs. Scheinbar ist der Wald zu unspektakulär für unsere heutigen Wander- und Erlebnisansprüche. Ein Irrtum.
Das erste Mal kam ich mit dem Bayerischen Junior Ballett München in diese vergessene Ecke Europas. „Ballett und Wildnis“ lautete unser Motto. Selten wurden wir so herzlich willkommen geheißen wie hier von den beiden Direktoren des Nationalparks Šumava. Geld bräuchten wir nicht zu wechseln – es gäbe im Wald sowieso nichts zu kaufen. Dieser Satz löste in mir ein seltsames Gefühl aus – zu sehr sind wir in der Stadt daran gewöhnt, immer etwas kaufen zu können. Fünf Tage lebten wir dann in einer kleinen Holzhütte. Mitten im Wald. Die Bühne wurde auf einen ehemaligen Panzer-Wendeplatz gebaut – auf ehemals militärischem Gebiet. Dort, wo noch einige Jahre zuvor die Panzer für den Kriegsfall übten, tanzten nun die jungen Tänzer aus aller Welt vor tschechischem Publikum. Ballett statt Panzer. Kunst statt Krieg. Das tut dem Wald und somit auch dem Menschen gut, denn die Bäume überdauern uns. Und welche Geschichten werden sie einmal unseren Kindern erzählen? Eine Geschichte des Friedens oder der Zerstörung?
Dem Staat geht es so gut wie seinen Bäumen. Dies hatte hier einst ein kluger und weiser Berater erkannt. Deshalb empfahl er seinem König, überall im Reich verteilt einige Waldstücke komplett der Natur zu überlassen. Die Natur solle ihr eigenes Gleichgewicht finden – der Mensch dürfe dieses Stück Erde nicht betreten. Der König tat wie im geheißen und so wurden überall in seinem Reich kleinere und größere Waldstücke „Ur-Wald“ vor dem Eingriff und dem Betreten der Menschen geschützt. Der Wald entfaltete sich vollkommen frei – in aller Ruhe. Die alten Bäume wuchsen so lange sie wollten und wenn sie alt und morsch wurden, brachen sie in sich zusammen. Das tote Holz bildete wiederum den Boden für neue Bäume, deren Triebe aus dem verstorbenen Baum hervor wuchsen.
Jahrhunderte vergingen. Kriege wurden geführt, das Reich veränderte immer wieder seine Grenzen. Politische Systeme lösten einander ab – die Demokratie die Monarchie, der Kommunismus den Kapitalismus und dann wiederum der Kapitalismus den Kommunismus. Doch – trotz aller Veränderungen – achtete man immer diese Waldstücke. Weiterhin betrat kaum ein Mensch diese Orte – allein ein paar Forscher und Naturschützer, die den Urwald in seiner Selbstverantwortung studierten.
In Šumava gibt es solch einen Ur-Wald und ich hatte das riesige Glück, dieses heilige Stückchen Erde betreten zu dürfen. Wirkliche Wildnis – mitten in Europa. Zu spüren, wie es sich anfühlt, durch einen fast vollkommen von Menschen unberührten Wald zu streifen. Den Frieden eines Urwaldes zu erfahren. Ein Erlebnis, das unvergessen bleibt und mein Verhältnis zum Wald für immer verändert hat.
Zu Sonnenaufgang fuhren wir in einer sehr kleinen Gruppe an diesen Ort. Vor dem Zaun, der den Urwald vom Rest des Waldes trennt, erklärten uns die beiden Direktoren des Nationalparks Šumava die Verhaltensregeln. Wir seien hier selbst verantwortlich für unser Leben. Absolute Aufmerksamkeit sei unabdingbar, denn die Wildnis bedeute auch Gefahr. Es gäbe jahrhundertealte Bäume, die jederzeit umfallen könnten. Jedes Knacken sei ernst zu nehmen. Auf alles müssten wir reagieren, um gegebenenfalls sofort vor einem umstürzenden Baum fliehen zu können. Erst im Sommer zuvor war eine Touristin hier ums Leben gekommen. Erschlagen durch einen umfallenden Baum. Obwohl sie außerhalb des eigentlichen Urwaldes wanderte. Bäume kennen keine Zäune und keine Grenzen.
Voller Respekt betraten wir diese Wildnis. Der Urwald wirkte auf den ersten Blick verschlossen und undurchdringlich. Dichtestes Grün in den unterschiedlichsten Schattierungen und Höhen. Kein Pfad. Nur Bäume und sehr viel Gestrüpp, vor dem uns lange Hosen und Ärmel einigermaßen schützten. Die beiden Direktoren krochen durch das Dickicht. Wir immer hinterher. Sie kannten sich aus in diesem undurchdringlichen Urwald, der sich uns nach den ersten Metern doch plötzlich zu öffnen schien. Die beiden kleinen Männer mit ihren Vollbärten und struppigen Haaren kletterten behände durch die Äste. Sie verwandelten sich auf einmal in zwei Trolle, die uns sicher und gewandt durch ihr Zuhause führten.
So streiften wir durch den Wald wie Tiere. Ohne Weg. Ohne Worte. Durch Dickicht. An den Hindernissen vorbei ohne zu kämpfen. Irgendwann überquerten wir einen Bach, der friedlich durch den Wald und aus der grünen Oase hinaus plätscherte. Wir kletterten unseren beiden Trollen hinterher unter abgebrochenen Bäumen hindurch und über totes Holz hinweg. Vorsichtig berührten wir die jungen Pflanzen auf dem alten Holz. Und gingen sanft, wie auf Watte. Der Boden war so weich, wie ich es noch nie erlebt hatte. Er lebte, gab nach, federte mit unserem Gang, hieß jeden Schritt willkommen. Schichten aus altem und vermodertem Holz, darüber das satte grüne Moos. Leichter Wind in den Bäumen, die Vögel eifrig beim Morgengezwitscher und die Insekten bei der Arbeit. Ein Duft nach feuchter Erde. Frische. Pures Leben. Ruhe und absoluter Frieden. In mir und um mich herum das Gefühl großer Harmonie. Und zugleich eine hundertprozentige Aufmerksamkeit auf den Moment und auf alles, was mich umgab. Bereit, jederzeit zu reagieren.
Fast andächtig verließen wir den Urwald wie einen heiligen Hain. Als wir etwas später beim ersten Kaffee des Tages saßen, bedankte ich mich bei den Wald-Männern dafür, dass sie die magische Atmosphäre ihres Waldes mit uns geteilt hatten. Mit einem Mal blühten die beiden schweigsamen Trolle auf. Ja, diese Bäume würden in der Tat eine ganz besondere Atmosphäre ausstrahlen: Sie hätten nämlich noch nie etwas Böses von einem Menschen erfahren. Kein Mensch hatte jemals einen dieser Bäume verletzt oder gar gefällt. Sie würden uns Menschen deshalb nicht als Feind, sondern als Teil des Waldes wahrnehmen – genauso wie Rehe, die friedlich zwischen ihnen hindurchstreiften. Eine schöne Vorstellung: Wir sind wie Rehe. Zwischen den Bäumen. Teil eines Ganzen. Teil des Waldes.
So langsam verstand ich, warum der weise Berater des Königs damals dem König geraten hatte, in seinem Reich Urwald-Oasen zu schaffen. Das Reich ist so gesund wie seine Menschen und seine Bäume. Weil wir alle zusammenhängen. Wir sind Natur. Ich habe gespürt, dass der Wald auch mein Zuhause ist. Meine Augen brauchen das Grün, um überhaupt sehen und mit dem Herzen wahrnehmen zu können. Vielleicht ist das so, weil unsere Ahnen im Wald lebten. Vor vielen, vielen Generationen – als Europa vor allem ein riesiger Urwald war. Wie heute noch der kleine Urwald in Šumava. Vielleicht spüren wir das noch manchmal irgendwo ganz tief vergraben in uns.
Ich möchte solch ein Stückchen Urwald in mir bewahren. Mich daran erinnern, dass wir eigentlich Natur sind – wie ein Reh oder ein Vogel oder ein Baum. Dass es im Leben vielleicht um gar nichts anderes geht als zu sein und zu leben. Ich möchte ein Stückchen Wildnis in mir bewahren, die – wie der Urwald in Šumava – noch keine Verletzungen erlebt hat und jeden neuen Menschen, jede neue Erfahrung und Begegnung ohne Wertung und Vorurteil annimmt. So, wie die Bäume auch uns erleben. Gelingen wird das vielleicht nicht. Weil wir Menschen sind. Aber mir gefällt die Vorstellung, mich ab und zu daran zu erinnern, dass auch in mir ein Stückchen Urwald ist.
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