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La Strada oder die verborgene Botschaft des Herrn Goecke

La Strada oder die verborgene Botschaft des Herrn Goecke

© Marie-Laure Briane/ Gärtnerplatztheater

Prolog zu La Strada oder die verborgene Botschaft des Herrn Goecke

Das wunderschöne Gärtnerplatztheater in München wurde sechs Jahre lang saniert und renoviert. Mein Alltag führt mich fast täglich am Theater vorbei und ich beobachtete in all diesen Jahren, wie das Gebäude – bis auf die Außenfassade – fast komplett abgerissen wurde und wie gähnende stockwerketiefe Riesenlöcher den Boden beherrschten.

 

Seit Ende letzten Jahres ist es wieder eröffnet. Einmal habe ich es seither besichtigt – zum Tag der offenen Türe. Und wollte unbedingt bald in eine Vorstellung. Doch ich habe mir viel Zeit gelassen, denn – wenn ich ehrlich bin – gehörte das Gärtnerplatztheater bisher nicht zu meinen Theater-Favoriten in München. Das hat sich nun geändert. Dank einer großartigen Ballett-Vorstellung: „La Strada“ in einer Choreographie von Marco Goecke zur Musik von Nino Rota.

 

Ich möchte hier weder eine Lobeshymne auf das Gärtnerplatztheater noch eine Kritik oder Nacherzählung über La Strada schreiben, sondern von der „verborgenen Botschaft des Herrn Goecke“ berichten. Ich habe das Programmheft, die unterschiedlichsten Kritiken, Berichte und Interviews gelesen und bin verwundert, dass niemand über diese Botschaft geschrieben hatte. Deshalb ist sie nun für mich die „verborgene“ Botschaft – vielleicht kommt sie ja auch aus meiner eigenen Fantasie. Wer weiß das schon.

 

Doch gerade das gehört zum Wunderbaren in der Kunst: Dass wir mit unseren ganz persönlichen Erfahrungen und Gedanken, unserem eigenen Bewusstsein und unserem eigenen Blick auf die Welt im symbolhaften Raum der Kunst – hier im Theater – Botschaften und Wahrheiten finden, die uns auf unserem ganz persönlichen Lebensweg vielleicht ein Stückchen weiterbringen. Botschaften, die uns mit Fragen oder Gedanken konfrontieren, auf deren Suche wir vielleicht gerade sind.

 

Hier sind Informationen zu weiteren Vorstellungen von La Strada in der Spielzeit 2018/19.

© Marie-Laure Briane/ Gärtnerplatztheater
© Marie-Laure Briane/ Gärtnerplatztheater

La Strada oder die verborgene Botschaft des Herrn Goecke

La Strada – nach dem berühmten Film von Federico Fellini – ist die Geschichte einer tragischen Dreiecksbeziehung. Die arme Gelsomina – Kind und Frau zugleich – wird an den gewalttätigen Artisten Zampanó verkauft. Dieser dressiert sie zu seiner Assistentin, behandelt sie wie eine Sklavin und beachtet sie ansonsten kaum. Lieber vergnügt er sich mit Huren und verletzt so Gelsomina in ihrer emotionalen Bindung zu ihm. Als diese jedoch dem fröhlichen Seiltänzer Matto begegnet, der ihr Liebe und Aufmerksamkeit zukommen lässt, entwickelt sich die Geschichte zu einem Drama, an dessen Ende Zampanó Matto – aus Eifersucht oder verletzter Eitelkeit – tötet. Gelsomina wird verrückt und verschwindet – hier in der Choreographie poetisch offen. Der bis dahin gefühlskalte Zampanó bleibt alleine zurück und empfindet – als er vom Tod seiner Gelsomina erfährt – zum ersten Mal Gefühle. Er hat Gelsomina geliebt – auch wenn er dieses Gefühl nicht zulassen und schon gar nicht zeigen konnte. Er wird am Ende doch noch zum Menschen mit Herz.

 

Die Inszenierung von Marco Goecke nimmt mich sofort gefangen. Es ist dabei weniger die Geschichte an sich, die mich berührt, als die Gefühle und Emotionen, die zwischenmenschlichen Momente, die im Tanz-Schauspiel oder Schauspiel-Tanz ausgedrückt werden. Nicht nur die unglaublich symbolische und stimmige Theater- und Bühnensprache, die sehr schnellen und überaus präzisen Bewegungen, sondern auch die Art, wie seine Tänzer zu wahren Akteuren auf der Bühne wurden, ist fesselnd. Es geht um viel mehr als nur die Körper: um das ganze Sein. So wird auch gesprochen, geschrien, geweint, gelacht, gebetet – in allen Facetten menschlicher Emotionen. Und die Tänzer sind mit ganzer Seele dabei. Tanz und Theater, wie ich es mir wünsche und erträume. Hier vor mir.

 

Doch das, was mich am allermeisten berührt, ist die „verborgene Botschaft des Herrn Goecke“. Sie offenbart sich mir ziemlich in der Mitte des Abends in einem Moment, der mir wie das dramaturgische Herzstück erscheint, da er den Abend – zumindest musikalisch – klar durchbricht: statt zur Musik des Orchesters tanzt das Ensemble nämlich nun zu einer alten Schallplatten-Aufnahme. Die Tänzer begleiten und ergänzen die Musik durch rhythmische Laute, Klatschen, Sprache und Bewegung. Ich glaube, es ist mexikanische Musik. Unglaublich mitreißend und aufwühlend. Es rüttelt mich wach – gerade auch durch die seltsame Entfremdung, die diese alte Aufnahme provoziert.

© Marie-Laure Briane/ Gärtnerplatztheater
© Marie-Laure Briane/ Gärtnerplatztheater

Am Ende dieses Ensemble-Teils beginnt Zampanó ein – trotz aller choreographischer Strenge – erotisches Pas de Deux. Es ist nicht das erste, dennoch ist es anders als vorherige. Welche Funktion die Tänzerin als „Witwe“ in der Geschichte innehat, weiß ich in dem Moment nicht und das ist auch nicht von Bedeutung. Denn es geht um etwas anderes: Sie hat einen geflochtenen Haarkranz um den Kopf und – das ist die Magie der „verborgenen Botschaft“ – wird in dem Moment eben genau dadurch für mich zur mexikanischen Malerin Frida Kahlo. Zampanó und diese Frida Kahlo winden sich umeinander – sie ist wie besessen von ihm. Sie kann nicht loslassen, klammert sich an ihn, es wird fast zum Kampf. Ich beobachte das und frage mich, wie es sein kann, dass auch Frida Kahlo – ähnlich wie hier in La Strada Gelsomina – in solch einer obsessiven Abhängigkeit von ihrem Mann Diego Rivera stand. Warum hatte sich diese großartige Künstlerin so klein gemacht und unter ihren Mann gestellt? Warum war sie so besessen von ihm und seiner Liebe?

 

Unwillkürlich denke ich auch an Camille Claudel, die ein ähnliches Schicksal mit dem Bildhauer Auguste Rodin erlebt und erlitten hatte. Ist das wirklich Liebe? Denn lässt Liebe nicht vielmehr den geliebten Menschen frei? Warum konnten diese begabten und beseelten Frauen nicht selbstbewusst und eigenständig ihren Weg als Künstlerinnen und liebende Frauen gehen? Sie waren wie gefesselt in einer Abhängigkeit – doch es war keine wirtschaftliche Abhängigkeit, sondern eine emotionale, die sie mit diesen Männern auf ähnliche Weise verband wie Gelsomina mit Zampanó. Warum suchten diese Frauen die Nähe von Männern, die ihnen nicht die Liebe geben konnten, die sie sich wünschten – sicherlich vor allem auch deshalb, weil diese Männer ihre eigenen Gefühle nicht zulassen konnten? Und was wäre mit diesen Männern geschehen, wenn ihre Frauen bei sich und in ihrer Stärke geblieben wären? In La Strada verwandelt sich der gefühlskalte Zampanó ganz am Ende in einen fühlenden und sogar liebenden Mann. Ganz alleine steht er – hörbar schluchzend – noch lange nach Ausklingen der Musik ganz vorne an der Rampe. Und berührt uns Zuschauer zum ersten Mal. Durch seine Menschlichkeit.

Fotos v.l.n.r.: Camille Claudel (1861-1943), "L'âge mûr" (1893-99) von Camille Claudel, Frida Kahlo (1907-1954) mit Diego Rivera, "Diego and I" von Frida Kahlo (1949)

Ich bin in dem Moment sehr beeindruckt von der sensiblen Art, in der Marco Goecke sich dem – angesichts der MeToo-Debatte – so aktuellen Thema über die Rolle der Frau in unserer Gesellschaft nähert. Eine klare Positionierung dazu im Rahmen eines Stückes wie La Strada hätte ich ihm als Frau wahrscheinlich fast übel genommen. Doch er berührt das Thema so fein, so zaghaft und so fragend, dass ich wirklich sehr berührt davon bin. Dabei weiß ich nicht einmal, ob Marco Goecke diese Botschaft bewusst eingebaut hat oder ob es vielleicht eine künstlerische Inspiration war, die er empfangen und zugelassen hat. Vielleicht aber auch ist es einfach nur eine Botschaft, die aus meinem eigenen Inneren kommt. Ich weiß es nicht und es ist auch nicht von Bedeutung, denn diese Freiheit zur eigenen Interpretation ist das Geschenk der Kunst an uns. Und Stücke, die dies zulassen, sind Einladungen zum Zulassen der eigenen Vorstellungskraft.

 

Das Stück geht weiter auf sein tragisches Ende zu. Ich bewundere noch die Art, wie sich das Bühnenbild vom wogenden Meer zum Wald und wieder zum Meer verwandelt. Der Wald hat sich gezeigt – wie die Gefühle, Hoffnungen, das Verborgene, Unbewusste, Ehrliche im Menschen – und das Meer verbirgt dieses Innerste wieder. Matto stirbt – nach einem großartigen Zigaretten-Duell, das so symbolisch ist: Die beiden Kontrahenten vergiften sich sozusagen selbst. Und sie brüsten sich in ihrer männlichen Coolness. Matto stirbt. Kleine Glöckchen werden zu Totenglocken.... Und Gelsomina wird verrückt. Zurück bleibt ein einsamer Zampanó.

© Marie-Laure Briane/ Gärtnerplatztheater
© Marie-Laure Briane/ Gärtnerplatztheater

Doch bevor das Stück mit dessen neu entdeckten Menschlichkeit endet, tanzt dieser Zampanó noch ein wunderschönes Pas de Deux mit einer Frau in heller Hose und Bluse. Es ist die Botschafterin, die ihm – denke ich an den Film – wohl vom Tod Gelsominas berichtet, doch für mich wird sie in dem Moment – vielleicht aufgrund choreographischer Anspielungen – zum weißen Schwan und spiegelt auch hier eine Form von abhängiger Liebe wider. Sie erinnert daran, wie unschuldig Gelsominas Liebe zu Zampanó war. Er jedoch hat den "weißen Schwan" – ihre und auch seine eigene Liebe – nicht erkannt und sich stattdessen für den "schwarzen Schwan" – die Angst vor dem Zulassen seiner Gefühle – entschieden. Mit dieser Erkenntnis endet für mich das Stück: Wir alle haben die Freiheit, uns zu entscheiden – zwischen Liebe und Angst, zwischen dem Zulassen oder Ablehnen von Gefühlen und damit letztendlich auch unseres ganzen Seins.

 

Und ich verlasse das wunderschöne Gärtnerplatz-Theater mit der „verborgenen Botschaft des Herrn Goecke“: Wo seid Ihr, Frauen? Warum geht Ihr nicht selbstbewusst Euren Weg? Warum lasst Ihr zu, dass Gefühle verborgen werden, warum begebt Ihr Euch in die Rolle der Abhängigkeit? Warum lasst Ihr zu, dass unsere Gesellschaft durch das kämpferische – männliche – Prinzip geprägt wird? Ja. Warum stehen wir Frauen nicht – mit all unserer Stärke und Liebesfähigkeit - auf? Vielleicht ist diese verborgene Botschaft auch ein kleiner Aufruf, eine ganz leise Bitte: Frauen, bleibt bei Euch und in der Liebe!

 

Danke, Marco Goecke, für diese verborgene Botschaft – egal, ob bewusst oder unbewusst, ich finde sie großartig!

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