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Leben in Bewegung

Leben in Bewegung

© Charles Tandy
© Charles Tandy

Prolog zu "Leben in Bewegung"

 

Eigentlich ist ein anderer Text fast fertig. Ein anderer Text zu einem ganz anderen Thema.

Doch jetzt wollte plötzlich „Leben in Bewegung“ unbedingt geschrieben werden – es hat für mich emotionale und thematische Aktualität: Vor zwei Tagen war die letzte Vorstellung dieser Spielzeit mit dem Bayerischen Junior Ballett München – in der bestehenden Konstellation. Die Hälfte der Tänzer verlässt nun die Company und zieht weiter in die Welt. Einige von ihnen sind mir sehr ans Herz gewachsen und ich bin traurig über den Abschied von diesen acht jungen Tänzern.

Ich hoffe, dass sie die Zeit in der Company in ihren Herzen bewahren und nun stark und mutig – voller Vertrauen – in ihre Zukunft gehen. Das ist mein Abschiedsbrief.

Leben in Bewegung

© Charles Tandy
© Charles Tandy

Tanz ist Bewegung. Und Bewegung ist Leben. Vielleicht liebe ich auch deshalb den Tanz so sehr. Weil Tanz uns immer wieder spüren lässt, dass das Leben ein ständiger Fluß ist, eine ständige Veränderung. Eine Bewegung, die im Inneren beginnt, manchmal den ganzen Körper erfasst und – in unterschiedlicher Dynamik – zu einem Ziel hinstrebt.

 

Vor wenigen Tagen habe ich das wieder erlebt. Bei der letzten Vorstellung des Bayerischen Junior Balletts München. Seit sechs Jahren begleite ich nun diese junge Company als Inspizientin auf alle Gastspiele im In- und Ausland. Jedes Jahr im Sommer heißt es Abschied nehmen von der Hälfte der Tänzer, die nun in alle Himmelsrichtungen weiterzieht. Im Herbst wird eine neue Company entstehen. Die andere Hälfte bleibt – sie werden dann die „Großen“ sein und den Neulingen beibringen, wie das Leben in der Company und auf Gastspiel funktioniert.

 

Die Tänzer kommen nach ihrer Ausbildung aus aller Welt in die Company – direkt aus der Schule sind sie mit ihren siebzehn bis zweiundzwanzig Jahren noch sehr jung und in vielem noch unerfahren. Es ist ihr erstes berufliches Engagement. Zwei Jahre bleiben sie hier und lernen professionelle Routine. Sie tanzen ein vielseitiges Repertoire auf den unterschiedlichsten Bühnen an den verschiedensten Orten – in vielen – oft kleinen Städten – Deutschlands, doch wir waren auch schon in Spanien, Italien, Tschechien, Israel und sogar Hong Kong. Es ist gerade ihre Frische und Lebensfreude, die das Publikum begeistert.

 

Ich habe auf diese Weise viele junge Menschen aus vielen verschiedenen Ländern kennengelernt. Sie kommen oft aus ganz unterschiedlichen Hintergründen und Familiengeschichten. Manche kommen aus Künstlerfamilien und haben die Kunst von klein auf aufgesogen, andere sind aus ganz einfachen Verhältnissen – sogar ein Bauernsohn war schon dabei. Alle begegnen sich im Tanz. In der Leidenschaft für die Schönheit von Bewegung. Ballett ist ihr Zuhause geworden. Es ist jetzt ihr Beruf. Viele ehemalige Junior Company Tänzer tanzen heute überall in Europa und der Welt, manche haben seit Verlassen der Company bereits in mehreren Ensembles in verschiedenen Ländern getanzt, manche von ihnen sind inzwischen sogar als Solisten auf den großen Bühnen zu sehen.

 

Wenn sie neu in die Company kommen, wissen sie oft nicht, was eine Inspizientin macht. Wie oft muss man ihnen da noch sagen: „Please clear the wings“ und die vergessenen Taschen, Schuhe und Wasserflaschen einsammeln. Sie müssen oft noch lernen, dass die Beleuchtungstürme keine Ballettstangen sind und sie sich nicht vor die Scheinwerfer setzen dürfen, um keine Schatten auf die Bühne zu werfen. Die „Größeren“ aus dem zweiten Jahr wissen das alles bereits und organisieren selbständig ihre Kostüme vor und nach jeder Vorstellung. Ein Jahr sind wir dann gemeinsam auf Gastspiel – an den verschiedensten Orten. Die „alten Hasen“ kennen mich bereits und wissen, was eine Inspizientin macht. Die jüngeren lernen das erst.

 

Jedes Jahr im Herbst ist es sehr spannend zu sehen, wie die ehemaligen „Kleinen“ aus dem Vorjahr plötzlich als „die neuen Großen“ nun Verantwortung und Führung für die neuen Ensemble-Mitglieder übernehmen. Sie wirken auf einmal nicht mehr so jung, sondern oft viel ernsthafter und verantwortungsvoller. Sie müssen nun noch mehr tanzen und führen die neuen Mitglieder in das Leben der Company ein. Sie sind oft auf einen Schlag – nach dem Sommer – erwachsen geworden.

© Wilfried Hösl
© Wilfried Hösl

Manche Stücke des Repertoires kenne ich seit fast sechs Jahren und konnte so im Laufe der Zeit beobachten, wie die Tänzer jeweils an ihnen wachsen. Es gibt Stücke, die sie auf Anhieb lieben, andere lernen sie erst später wirklich schätzen. Geht es am Anfang vielleicht eher darum, die Choreographie möglichst korrekt zu tanzen, lernen sie im Laufe der Zeit ihren eigenen Ausdruck und ihre eigene Freiheit zu finden. Manchmal fließen Tränen nach der ersten Vorstellung, so stark und intensiv sind die erlebten Emotionen. Diesen künstlerischen Entwicklungsprozess der Tänzer zu beobachten, ist unglaublich spannend.

 

Das Jahr der Bayerischen Junior Ballett-Tänzer hat einen interessanten eigenen Ablauf: finden sie im Herbst erst zueinander und definieren neu ihre Rollen, so greift spätestens im Frühjahr eine Unruhe um sich: die Älteren müssen sich um ihre Zukunft kümmern, denn nach dem zweiten Jahr müssen sie die Company verlassen – dann geht ihr Weg als professionelle Tänzer an anderen Orten weiter. Nun müssen sie sich um Vortanzen und Auditions kümmern. Angst um die Zukunft beginnt. Gleichzeitig müssen sie ihren Verpflichtungen in der Company weiter nachkommen – sie tanzen nun oft sehr viel mehr als im Vorjahr und müssen natürlich weiterhin bei Proben und Vorstellungen anwesend sein. Wie oft scheinen sie da in einen Interessenkonflikt zu geraten – zwischen ihrer Verantwortung für die Company und für die eigene Zukunft. Ein Konflikt, an dem sie alle reifen.

 

Irgendwann löst sich die Anspannung, denn dann sind die meisten untergebracht. Sie wissen nun, wohin sie weiterziehen werden und ob sie dann in Prag, Pilsen, Stuttgart, Novosibirsk, München, Berlin, Helsinki oder sonst wo leben und tanzen werden. Dann greift eine neue Zuversicht, eine neue Professionalität um sich. Dies ist – finde ich – fast die schönste Zeit im Leben der Company: die Gruppe hat sich gefunden: Die nicht mehr ganz so Neuen kennen sich aus, die Alten wissen, wie es für sie persönlich weitergeht. Die Choreographien sind bereits viele Male getanzt worden und gewinnen nun an künstlerischer Qualität.

 

Und – wie heißt es so schön und wahr: Man soll gehen, wenn es am schönsten ist. So endet das Leben der jeweiligen Company spätestens im Juli. Vor wenigen Tagen war es bei uns so weit: Ausnahmsweise nahe der Heimat München gab die Company in Fürstenfeldbruck beim Tanz-Festival „Dance First“ ihr letztes Gastspiel. Es war für uns alle ein intensiver Moment: der Abschied. Die Tänzer, die nun weiterziehen, gaben nochmals alles: die Sprünge höher und weiter denn je, jeder Schritt, jede Bewegung wurde voller Intensität getanzt. Auch das Publikum spürte dies und zeigte die Begeisterung mit großem Applaus und Bravorufen. Alle wussten: So in der Konstellation wird das nie wieder stattfinden. Und natürlich flossen im Anschluß die Tränen – der Erleichterung und der Traurigkeit.

 

Heute sind sie bereits alle im Urlaub und unterwegs zu ihren neuen Orten. So schnell kann Abschied gehen. Leben ist Bewegung. Permanente Veränderung. Dazu gehören auch Aufbruch und Neuanfang, Abschied und Loslassen. Ein ständiger Fluß. Leben ist Bewegung – auch dafür steht Tanz.

 

Justin, Eloise, Benjamin, Sarah, Carollina, Sinthia, Sava, Federico: Für Eure Zukunft als Tänzer, Künstler und Menschen wünsche ich Euch aus ganzem Herzen das Beste! Ich bin dankbar, dass ich Euch auf diesem kleinen Stück Weg begleiten durfte.

Auf ein Wiedersehen an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit! 

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Kommentare: 1
  • #1

    Matthias H. (Freitag, 20 Juli 2018 17:28)

    Wieder ein so klarer Text, der ganz Deine Handschrift trägt. Ein Text, so kenntnisreich wir empathisch, auch ein schönes farewell für die Tänzerinnen und Tänzer, die die Company verlassen.
    Ivan L. sollte den Text 1:1 auf die website der Company nehmen!
    Herzliche Grüsse, Matthias