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Blick aus dem Fenster - Hommage an eine unbekannte Alte

Blick aus dem Fenster - Hommage an eine unbekannte Alte

Prolog zu "Blick aus dem Fenster":

 

Nach einem Text über Türen möchte ich nun über Fenster schreiben. Vielmehr darüber, welche Welten uns Fenster eröffnen können. Fenster bringen uns nicht nur Licht und Luft. Fenster erlauben uns vor allem einen Blick in die Außenwelt und vielleicht – wenn wir gut hinsehen - auch nach innen. In die Welt unserer eigenen Hoffnungen und Wünsche. Manchmal enthüllt ein Fenster sogar Geheimnisse. Mein Fenster offenbarte mir die Verbindung zu einer ganz besonderen Person: einer unbekannten Alten.

 

Dieser Text handelt nicht von Kunst und Kultur, sondern erzählt schlicht und einfach aus dem Leben. Denn sind es nicht die Erfahrungen unseres Lebens, die es überhaupt erst ermöglichen, Kunst zu erschaffen oder zu erkennen? „Leben, um davon zu erzählen“ – so betitelt Gabriel García Márquez seine Autobiographie. Das Leben als Erzählung – voller Geheimnisse und voller Wissen.

 

Die Idee zu diesem Text trage ich schon sehr lange in mir – doch erst vor kurzem kam der Anstoß zum Schreiben – in Form eines fehlenden Puzzleteils. Dieser Text ist eine Hommage an eine unbekannten alte Frau. Sie war meine Gefährtin.

 

Blick aus dem Fenster - Hommage an eine unbekannte Alte

Es gibt manchmal Momente im Leben, da spürt man eine große Verbundenheit zu bestimmten Menschen, die man kaum oder gar nicht kennt. Zum Beispiel bei der Liebe auf den ersten Blick. Doch auch jenseits amouröser Gefühle gibt es solche wunder-samen Begegnungen, die uns vielleicht verraten wollen, dass wir doch alle miteinander verbunden sind.

 

In meinem Leben gibt es eine Person, zu der ich diese besondere Verbundenheit gespürt habe und noch immer spüre. Ich habe sie niemals persönlich kennengelernt und werde sie auch niemals mehr kennenlernen. Es war eine alte Dame, die lange Zeit in der Wohnung gegenüber lebte. Wir waren verbunden durch eine Art Wohngemeinschaft – getrennt allein durch eine schmale Straße. Kommunizierten ohne Worte und ohne Gesten.

 

Unsere zarte Wohngemeinschaft begann, als ich vor einigen Jahren in diese Wohnung einzog. Der erste Eindruck meiner neuen Nachbarschaft war geprägt von einem Gefühl der Traurigkeit – nicht nur aufgrund meiner gerade gescheiterten Beziehung. Ich sollte von nun an in einer Wohnung leben, deren Fenster ausnahmslos zur Straße zeigten. Als wäre das allein nicht schon schlimm genug, war mein Ausblick die unglaublich langweilige Fassade einer luxuriösen Altersresidenz – immerhin in gelb, meiner Lieblingsfarbe. Das einzige Grün weit und breit war ein einbetonierter Gingko-Baum, der sich tapfer schlank zwischen dem Häuserblock hoch nach oben in den Himmel reckte. Mein Freund, der Baum.

 

Schon seit langem haben mich alte Menschen seltsam stark berührt. Ihre Zerbrechlichkeit, ihre verblasste Schönheit, die Schwierigkeit ihrer Bewegungen, ihre Hilflosigkeit, die eingefallenen Gesichter mit leider oft so stumpfen Augen, die selten noch Freude oder Lebendigkeit ausstrahlen. Ausgerechnet ich würde nun also täglich die Tragödie des Alters ertragen müssen. Diese Ahnung wurde alsbald durch die Realität bestätigt: Ein alter Mann in schlabberiger weißer Unterhose und ebenso schlabberigem weißen Unterhemd schlürfte mit seinem Rollator zum Fenster und zeigte sich mir in seiner vollen Alterstraurigkeit. Aus einem anderen Fenster stierte ein alter Mann mit leerem Blick auf die Straße. Wie ich durch spätere Beobachtungen herausfinden sollte, tat er das übrigens immer. Täglich. Stundenlang.

 

Diese Tristesse war also von nun an mein Alltag.

Es gab jedoch – Gott sei Dank – einen Farbtupfer. Ein rotes Gemälde – abstrakte Kunst in der Wohnung direkt gegenüber. Mein Lichtblick. Sie. Meine „Nachbar-Omi“. Eine wunderbare Frau. Elegant gekleidet, meistens in einem Rock, der ihre rundliche Figur noch betonte, darüber ein rotes Jackett, die Haare wellig frisiert – wie das für Damen ihres Alters oft modisch ist. Am Stock schritt sie würdevoll durch ihre Wohnung. Eine stolze Frau.

 

Meine unbekannte Alte war Künstlerin – in meiner Fantasie. Früher stand sie als Kind auf der Bühne des Schultheaters, den Zweiten Weltkriegs erlebte sie als junge Frau geschützt auf dem Landgut ihrer Familie und nutzte später die Nachkriegswirren, um ihrer großbürgerlichen Familie zu entkommen und sich ihren Lebenstraum der Schauspielerei – gegen den Willen ihrer strengen Eltern – zu verwirklichen. So ging sie nach Wien und begeisterte dort bald mit ihrer sprühenden Lebensfreude das Publikum. Nun – im hohen Alter – schreibt sie ihre Lebensgeschichte. Es ist die Autobiographie einer außergewöhnlichen Frau: Sie erzählt von ihren Erfahrungen und Verlusten, von ihrer großen Liebe und den vielen kleinen Amouren, von der Leidenschaft für die Bühne, von dem Mann, den sie heiratete, der jedoch viel zu früh verstarb und sie mit den Kindern alleine ließ. Sie schreibt von ihrem Kampf um die Kinder, von der Versöhnung mit den Eltern und vom Glück des späten Ruhmes, den sie aufgrund ihrer Reife in Demut annehmen konnte. Das Leben meiner Nachbar-Omi war erfüllt von Veränderungen und Tragödien, vor allem aber auch von Liebe und Dankbarkeit. Eine starke Frau, die aus einem reichen Schatz an Lebenserfahrungen schöpfen kann.

 

Oft hatte sie Besuch von ihrer großen Familie, manchmal half ihr eine Enkelin mit dem Manuskript. Tagelang gingen sie die Seiten durch – die Enkelin übernachtete auf einer Matratze auf dem Boden. Am nächsten Tag wurde weiter gearbeitet.

 

Meine Omi litt nicht unter der für Senioren typischen Bettflucht. So sah ich sie öfter um vier Uhr in der Früh – ohne zu wissen, ob sie noch immer wach oder gerade aufgestanden war. Sie hatte keinen geregelten Lebensalltag. Jeden Tag gestaltete sie undogmatisch neu.

 

Unsere ungewöhnliche Wohngemeinschaft währte einige Jahre, bis meine Nachbar-Omi eines Tages von Pflegekräften umringt war. Daraufhin trennten uns einige Tage ihre geschlossenen Rollläden – Tage, in denen ich mir große Sorgen um meine Mitbewohnerin machte. Als die Rollläden eine gefühlte Ewigkeit später wieder geöffnet wurden, war aus meiner blühenden Nachbar-Omi plötzlich eine sehr zerbrechliche, hilflose alte Frau geworden. Sie saß im Rollstuhl mit eingegipstem Bein. Statt in eleganter Kleidung nun im Nachthemd. Ich wollte ihr Blumen schicken. Tat es aber nicht. Leider. Es wären Abschiedsblumen gewesen, denn als ich nach einer kurzen Reise wieder zurückkam, war ihre Wohnung voller Menschen, die sich durch ihre Schränke und Schubladen wühlten. Ich ahnte, dass diese große schwarze Gesellschaft gerade meine Omi beerdigt hatte. Die Wohnung wurde geräumt und stand über ein Jahr leer. Im Herzen Münchens – in bester Lage.

 

Ist meine Nachbar-Omi – wie meine echte Omi – an den Folgen eines Sturzes gestorben? Ich weiß es nicht. Und werde es wohl nie wissen. Muss es auch nicht wissen, denn es macht keinen Unterschied. War sie überhaupt gestorben und nicht vielleicht doch bei Verwandten oder auf irgendeiner schrecklichen Pflegestation? Einige Monate nach ihrem Verschwinden habe ich mich in meinen Zaubersessel gesetzt und eine Kerze für sie angezündet. Ich fragte sie, wo sie ist. Sie hat mir geantwortet. Seitdem weiß ich, dass sie tot ist.

 

Bedaure ich es, sie nie kennengelernt zu haben? Nein. Aber ich bedaure, dass ich damals nicht meinem Impuls gefolgt bin und ihr Blumen geschickt habe. Dennoch überwiegt ein großes Gefühl der Dankbarkeit für die Verbundenheit, die wir einige Jahre lang miteinander hatten und die auch heute noch – über ihren Tod hinaus – hält. Ich bin dankbar für die Geheimnisse in unserem Leben, dankbar, Wissen zu spüren – manchmal auch ohne tatsächlich zu wissen.

 

Manchmal schenkt uns das Leben aber doch noch die „Beweise“, die sich unser Verstand immer so sehnlich wünscht. Vor wenigen Tagen erhielt ich eine solche Bestätigung – des „Rätsels Lösung“, wenn man so will. Ich begegnete spätabends einem mir bisher unbekannten Nachbarn, der einen ähnlichen Ausblick auf die Altersresidenz hat. Wir standen lange an seinem Fenster und blickten auf das Gebäude gegenüber, sprachen über das, was wir tagtäglich sahen, den Beton, das wenige Grün und die alten Menschen. Dann erzählte er mir von einer Beobachtung, die ihn sehr berührt und schockiert hatte: eines Tages kamen Leute in eine Wohnung und legten die Leiche einer Frau in einen Sarg. Ohne die Vorhänge zu schließen. Er musste alles mit ansehen. Ich ahnte, wer es war und fragte. Ja. Es war die Leiche meiner Nachbar-Omi.

 

Der Kreis um ihr Leben hat sich nun für mich geschlossen. Oder werde ich irgendwann doch noch ihre Autobiographie in Händen halten? Ich werde sie erkennen, wenn ich ihre Geschichte lese. Das weiß ich. Und wenn mich die Geschichte meiner Nachbar-Omi niemals findet, so werde ich sie vielleicht schreiben. Für sie. Denn ihr verdanke ich das Wissen um die Kraft von Verbindungen zwischen Menschen. Verbindungen, die stärker sind als Worte und die uns intuitiv wissen lassen, was der Verstand allein nicht zu erfassen vermag.

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Kommentare: 4
  • #1

    Ilke (Donnerstag, 28 Juni 2018 21:14)

    Liebe Deike,
    wau, ein wundervoller Text - so einfühlsam und rührend! Ich musste an unsere Omi denken - Du zwischenzeitlich sicher auch... sie war eine tolle Frau - so wie Deine Nachbarin.

    Danke für den Anstoss für meine schönen Erinnerungen ….

    Sei gedrückt, deine ilke

  • #2

    Matthias Holzapfel (Freitag, 29 Juni 2018 08:50)

    Liebe Deike,
    was für ein wunderschöner Text, zart, klar, geradlinig und ruhig erzählt, Du hast einen dem Thema wunderbar angemessenen Ton getroffen. Der Text weckt Erinnerungen und vor allem das Erinnern,
    das zuzulassen machmal schwer fällt, mit Deinem Schreiben ist es aber ganz leicht. Und das Erinnern ist ja oft eine trügerische Sache, Dein Weg weist jedoch zu einer eigenen Wirklichkeit, die sich, unabhängig vom objektiv Wirklichen, in uns so stark und schön behaupten kann.
    Liebe Grüsse, Matthias

  • #3

    Martin Müller, LEBENSWERKE Social Profit Agentur (Samstag, 21 Juli 2018 21:50)

    Liebe Deike,
    in der Tat ein sehr schöner Text..., in der Tat.
    Bleib´ da auf Deinem Weg...
    Danke für die schöne Begegnung mit Dir gestern in Stuttgart.

  • #4

    Sterben... (Samstag, 26 Januar 2019 03:16)

    ... ist wie Platz machen. Man hat sein eigenes Leben gehabt, hat es gelebt so gut oder schlecht wie es eben ging. Beim einen mehr, beimanderen weniger. Um sterben zu können, muss man richtig gelebt haben, hat mal einer gesagt, nur so funktioniert das richtige Sterben: als Lebenskunst, als gelebte Kunst. Und die beschissenen Randerscheinungen des gesellschaftlichen Umgangs mit dem allmächtigen Tod, sind lächerlich und absurd. Wie so manches halt im Leben auch. Sterben tut man immer an irgendwas, in kleinen Dosen, unmerklich, ein bißchen. Das ist nicht weiter schlimm, es will gelernt sein. Die Haut wird schlaff, die Knochen leiern, das Denken setzt aus, von Jahr zu Jahr, lanfsam fein. So eine Art physiologische Verblödung. Und alle haben Schiß davor, und wie! Besonders die, welche mit fünfzehn anfangen, Botox zu spritzen. Sie vertrauen nicht der vergänglichen Natur. Und seien wir mal ehrlich, ein frischer Apfel sieht halt appetitlicher aus als ein runzeliger.

    Aber was soll's?! Sterben ist gelebte Kunst, die sollte man können, kompromislos, man hat keine Wahl. Nun könnte man in Hektik verfallen und möglichst schnell möglichst viel und alles auf einmal machen. Wwr das macht, hat nichts vom richtigen Sterben verstanden. Denn gut zu sterben setzt nun mal zwingen voraus, gut und lange gelebt zu haben. Und das ist die Frage des wie. Betrachte ich die Stunde des Todes, die letzte Minute, dann blicke ich auf ein fettes Leben zurück, ein saftiges, pralles, ein erfülltes - und gehe in vollkommener Ruhe den letzten Schritt die Hüllen der Illusionen hinter mir liegend lassen in ein warmes Licht, in eine ewige Geborgenheit des leichten Nichts oder in ein neues Leben, halt nur ein bißchen anders und ein wenig klüger als im alten.